Datenvisualisierung Europas:Leben und Sterben im Zeitraffer

Den Geburts- und Sterbeort von 150 000 bedeutenden Menschen digital sichtbar machen - und das seit Christi Geburt: Forschern ist es gelungen, so eine Kulturgeschichte Europas nachzuzeichnen. Es entstand eine 2000-Jahres-Karte, auf der der Kontinent erblüht und Amerika erobert wird. Nie sah Geisteswissenschaft cooler aus.

Von Sebastian Herrmann

Während der Französischen Revolution floss das Blut in den Straßen von Paris. Unter den Toten waren viele Beamte und Politiker - wie es zu erwarten ist, wenn ein politisches System mit Gewalt umgekrempelt wird. Aber auch eine andere Berufsgruppe hatte in den Jahren nach 1789 in der französischen Hauptstadt überraschend viele Tote zu beklagen: die Architekten. Wer mit dem Bau von Gebäuden beschäftigt war, lebte offenbar gefährlich. Wer weiß, vielleicht pflegten die Architekten besonders enge Beziehungen zur Obrigkeit und qualifizierten sich so als Ziel politisch motivierter Gewalttaten; vielleicht kämpften auch einfach nur viele von ihnen auf den Barrikaden der Stadt.

Das Sterben der Pariser Architekten ist einer von vielen erstaunlichen Vorgängen in der Kulturgeschichte, die mit einem neuartigen Analysewerkzeug sichtbar und numerisch greifbar gemacht werden können. Eine auf Zigtausenden historischen Geburt- und Sterbedaten basierende Auswertung haben die Forscher um den Kunsthistoriker Maximilian Schich von der Universität Texas in Dallas im Fachmagazin Science veröffentlicht (Bd. 345, S. 558, 2014).

Für das Projekt haben die Wissenschaftler unter anderem den Geburts- und den Sterbeort von mehr als 150 000 bedeutenden Menschen erfasst - und das für einen Zeitraum von gut 2000 Jahren. Sie haben somit Analysewerkzeuge und Methoden auf kunst- und kulturhistorische Fragen angewendet, mit denen üblicherweise anderswo komplexe Systeme modelliert werden, etwa Protein-Interaktionen in der Biologie oder der Straßenverkehr in der Mobilitätsforschung. Die Visualisierungen dieser Daten sind beeindruckend. Bilder und Videos führen die kulturelle Mobilität der vergangenen Jahrhunderte in Europa und Nordamerika vor Augen.

Leuchtende Brücken nach Amerika

Sie zeigen, wo Künstler, Wissenschaftler oder eben Architekten einst von welchen Orten aus hinzogen. Der Ort ihres Todes ist dabei ein Indikator für ein kulturelles Zentrum jener Epoche, zumindest wenn weitere bekannte Menschen zu ähnlicher Zeit dorthin zogen und bis zum Lebensende blieben. Die Visualisierungen setzen mit Christi Geburt ein und zeigen, wie zunächst Rom und Athen als einsame Lichtpunkte inmitten kultureller Finsternis leuchten - bis weitere Zentren, Florenz zum Beispiel, aufscheinen, sich ein immer dichteres Netzwerk entspinnt, Brücken nach Amerika aufblinken, und schließlich Großbritannien und Mitteleuropa mit dem Beginn der Neuzeit in einem regelrechten Lichtgewitter explodieren.

Einwände gegen den Wert dieser Analyse liegen auf der Hand: Dass Athen, Rom, Florenz, später Paris, London und so weiter Epizentren europäischer Kultur waren, ist nun wirklich keine frische Erkenntnis, das weiß doch jeder. Doch darum geht es nicht. Dass die Datenanalyse diese bekannten Umstände exakt nachzeichnet, sei ein Beleg für deren methodischen Wert, sagt Schich.

Es gehe grundsätzlich um die Digitalisierung der Geisteswissenschaften, darum, in diesen Disziplinen endlich quantitative Fragestellungen zu bearbeiten. Historiker etwa beschäftigen sich meist mit qualitativen Fragen, also mit einzelnen, spezifischen Vorgängen und Motiven. Vielleicht sind auch die Umstände des Architektensterbens im Paris der Französischen Revolution bereits bekannt. Mit den Analysewerkzeugen des Teams um Schich lassen sich aber unzählige Details zusammenfügen, die mutmaßlich auch von unzähligen Forschern bearbeitet werden. "Wir fassen diese Menge an einzelnen Vorgängen zusammen und schauen, ob sich Trends ergeben", sagt Schich. Ein Spezialist für Architektur während der Französischen Revolution könnte somit die quantitativen Daten nutzen, um an anderen Orten und in anderen Epochen nach ähnlichen Mustern zu suchen. Korrelierte das Schicksal der politischen Klasse auch anderswo mit dem der Bauberufe?

"Long Data" als neues Werkzeug

Manche Trends, die Schich in den Daten aufspürte, scheinen der Intuition zu widersprechen. So ist die geografische Mobilität auch in der globalisierten Neuzeit nicht sonderlich stark gestiegen. Im 14. Jahrhundert starb die Hälfte der Menschen in Schichs Analyse weniger als 214 Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt. Bis heute hat sich dieser Wert nur auf 382 Kilometer erhöht - erstaunlich angesichts der Distanzen, die heute zurückgelegt werden.

Verändern sich Geisteswissenschaften, indem sie Ansätze wie den des Teams um Schich anwenden? Womöglich wäre es fahrlässig, neue Analysemethoden für vorhandene Datenschätze zu ignorieren. "Große Datenbestände erweitern die Forschungsfragen der Kunstgeschichte", heißt es etwa in der Zürcher Erklärung zur digitalen Kunstgeschichte, die im Juni formuliert wurde. Und auch James Cuno, Präsident des Getty Trust, sprach sich kürzlich im Wall Street Journal dafür aus, dass Netzwerkanalysen und andere Methoden dringend stärker in die Kunstgeschichte eingebracht werden müssten.

Die Debatte ist auf jeden Fall schon um ein Schlagwort erweitert: Historiker werden künftig Long Data neben Big Data für ihre Disziplin reklamieren. Denn über Daten, die weit in die Geschichte zurückreichen, sollte das Fach doch verfügen.

Zu sehen sind Bilder und Visualisierungen unter www.sz.de/longdata sowie www.cultsci.net

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