Das Rätsel Paul Kammerer:Der Froschkönig

Seit 80 Jahren gilt der Biologe Paul Kammerer als einer der größten Betrüger der Wissenschaft - womöglich zu unrecht.

Katrin Blawat

Am Vormittag des 22. September 1926 wandert Paul Kammerer, 46 Jahre alt, vom Hotel "Zur Rose" in Puchberg nahe Wien zum Schneeberg. Am Theresienfelsen lehnt er sich im Sitzen mit dem Rücken ans Bergmassiv und zieht aus der Tasche seines Anzugs einen Revolver. Warum er sich dann mit rechts in die linke Schläfe schießt, bleibt das letzte, aber bei weitem nicht das einzige Rätsel des Biologen Paul Kammerer.

Das Rätsel Paul Kammerer: Ein Leben für die Frösche: Paul Kammerers Krötenexperimente sind berühmt geworden.

Ein Leben für die Frösche: Paul Kammerers Krötenexperimente sind berühmt geworden.

(Foto: Foto: dpa)

Mit seinem Freitod setzt Kammerer einer Karriere ein Ende, die so reich an Ruhm und Schande war wie kaum ein anderes Forscherschicksal jener Zeit. Mehr als 80 Jahre lang galt er als ein Beispiel für Wissenschaftsbetrug. Doch nun tauchen immer mehr Hinweise auf, dass Kammerer seine Ergebnisse wohl nicht gefälscht, sondern nur in der Darstellung nachgeholfen hat. War er seiner Zeit doch weit voraus und hatte ein grundlegendes Konzept der Genetik entdeckt? "Die Epigenetik, das heißt die Erkenntnis, dass Umwelteinflüsse Gene aktivieren oder stilllegen können, ist eine wahrscheinliche Erklärung für Kammerers Ergebnisse", fasst der chilenische Biologe Alexander Vargas seine Untersuchungen zusammen (Journal of Experimental Zoology, online).

Kröten, Frösche und Salamander

Geboren am 17. August 1880 in Wien, spielt Paul Kammerer von klein auf lieber mit Kröten, Fröschen und Salamandern als mit seinen drei älteren Halbbrüdern. Als er sich mit 19 Jahren an der Universität Wien für ein Zoologiestudium einschreibt, ist er schnell für seine exzellente Pflege der Amphibien und Reptilien bekannt. 1902 baut der Zoologe Hans Przibram im Wiener Prater das später weltberühmte "Vivarium" auf. Ihm fehlt ein Assistent, "der die Terrarien und Aquarien anlegen und dem Kleingetier die Anstalt wohnlich machen soll" - Kammerer bekommt den Job.

Im Vivarium herrscht ein offener Forschergeist. Jede Art von Experiment ist willkommen, und dank Przibrams Privatvermögen sind die Labore auf dem neuesten Stand der Technik. Kammerer nutzt diese Bedingungen für sein berühmt gewordenes Krötenexperiment. Er besorgt sich Geburtshelferkröten, die sich normalerweise an Land paaren. Andere Krötenarten pflanzen sich im Wasser fort. Damit das Männchen dabei nicht vom Weibchen abrutscht, entwickelt es an den Vorderbeinen sogenannte Brunftschwielen. Kammerer will zeigen, dass sich erworbene Eigenschaften vererben, eine These, die etwa 100 Jahre zuvor Jean-Baptiste de Lamarck aufgestellt hat. Dann begann Darwins Evolutionstheorie die lamarckistische Lehre infrage zu stellen, und wer ihr um zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch anhängt, gilt selbst in der konservativen Wiener Wissenschaftsszene als reaktionär.

Aus Begeisterung eine Kröte geküsst

Kammerers Versuche bringen neuen Schwung in die Debatte. Er lässt Geburtshelferkröten in heißen Terrarien heranwachsen, in denen sich die Kröten nur in einem Wasserbecken abkühlen können. So zwingt er die Amphibien, sich entgegen ihrem natürlichem Verhalten im Wasser zu paaren. In der vierten Generation seien dann die Brunftschwielen an den Vorderbeinen der Männchen aufgetaucht, berichtet Kammerer. Eine Mitarbeiterin erzählt später, aus Begeisterung über seine Ergebnisse habe Kammerer eine Kröte geküsst.

Er fertigt Schnitte der Brunftschwielen an, fotografiert sie und präsentiert die Bilder 1923 in Yale, London und Cambridge. Seine Zuhörer lassen sich von Kammerer begeistern, der mit seiner "dunklen Künstlermähne und feinen Gesichtszügen recht imponierend" wirkt und über eine "glänzende, wenn auch theatralische Vortragsweise" verfügt, wie ein Freund Kammerers notiert. Zeitungen und Fachmagazine berichten über die Vorlesungen, die New York Times schreibt innerhalb weniger Monate fünf Mal über ihn und feiert Kammerer als den "nächsten Darwin". Zum ersten Mal in seinem Leben verdient Kammerer Geld. Zwar werden bereits erste Zweifel an seiner Arbeit laut, doch die führt der Zoologe auf seine jüdische Abstammung zurück, die ihn in den Augen einiger Kollegen von vornherein diskreditiere.

In Missgunst gefallen

Tusche ins Krötenbein

Wieder zurück in Wien, erhält Kammerer Besuch vom amerikanischen Reptilienkundler Gladwyn Noble. Der begutachtet nicht nur die Fotografien, sondern lässt sich im Vivarium auch das präparierte Krötenbein selbst zeigen. Der Aufsatz, den er daraufhin im August 1926 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht, findet ebenso viel Gehör wie zuvor Kammerers Vorträge. Der Wiener Biologe habe einfach Tusche in das Krötenbein gespritzt, um auf seinen Fotos den Eindruck vorzutäuschen, die Geburtshelferkröten hätten Brunftschwielen entwickelt, schreibt Noble.

Hatte Noble Recht? War Kammerer nur ein dreister Fälscher? Dass er tatsächlich Tusche benutzt hat, bezweifelt heute kaum ein Wissenschaftshistoriker mehr. Trotzdem ist sich Olaf Breidbach von der Universität Jena sicher: "Der Kerl hat nicht getrickst. Vermutlich hat er mit der Tusche die Farbkontraste auf den Fotographien stärken wollen. Das ist heute aber auch noch üblich, nur nimmt man jetzt elektronische Hilfsmittel." Zum gleichen Schluss kam vor drei Jahren auch Breidbachs Kollege Sander Gliboff, der penibel Kammerers Aufzeichnungen und die seines Biographen Arthur Koestlers neu ausgewertet hatte.

Nun liefert Alexander Vargas von der Universität von Chile in Santiago noch eine mögliche Erklärung aus Sicht des Genetikers: Umwelteinflüsse können dazu führen, dass sich chemische Gruppen an die Verpackungsproteine der DNS heften und so Gene stilllegen oder aktivieren. Diese Methylierungen genannten Änderungen können Eltern auch an ihre Nachkommen weitergeben - das habe dazu führen können, dass Kammerers männliche Geburtshelferkröten über mehrere Generationen hinweg Brunftschwielen ausbildeten.

Als Betrüger verschrien

Zu Kammerers Zeiten ist jedoch weder die Struktur der DNS bekannt noch deren Variationsmöglichkeiten. So kann Kammerer den Anschuldigungen wenig entgegensetzen außer seinen Unschuldsbeteuerungen. Wenige Tage nach der Veröffentlichung von Nobles Artikel ist Kammerer in Wien als Betrüger verschrien. Einzig die Moskauer Akademie lädt ihn noch ein, in ihrem Auftrag in Russland zu forschen - ein Wissenschaftler, der im Westen in Missgunst gefallen ist, kommt den Kommunisten recht.

Kammerer sagt zwar zu, doch am 21.September schreibt er der Akademie: "Ich sehe mich außer Stande, diese Vereitelung meiner Lebensarbeit zu ertragen und hoffentlich werde ich Mut und Kraft aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein Ende zu bereiten."

In einem zweiten, privaten Brief verfügt er, dass sein Leichnam dem akademischen Seziersaal in Wien zugute kommen soll.

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