Epidemiologie:Die verborgenen Toten

Coronavirus - Virus Sars-CoV-2

Die rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt das Virus Sars-CoV-2, das Covid-19 verursacht.

(Foto: dpa)

In vielen Regionen sterben mehr Menschen, als die offiziellen Corona-Statistiken erklären können. Woran das liegen könnte.

Von Hanno Charisius und Christian Endt

Mehr als 178 000 Menschen sind bislang weltweit durch das neue Coronavirus Sars-CoV-2 gestorben, so die Zählung der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität. Doch war bislang nicht eindeutig, ob die Corona-Pandemie die generelle Sterbestatistik nach oben treibt. Immer wieder kursieren Behauptungen, wonach die Sterblichkeit insgesamt nicht höher sei als in anderen Jahren. Viele Menschen würden nicht an, sondern nur mit dem Virus sterben, sagen Kritiker, auch wenn das die erschreckenden Zustände in überlasteten Krankenhäusern in China, Italien und den USA nicht erklären kann.

Nun zeigen vorläufige Daten aus mehreren Regionen, dass während der Pandemie tatsächlich viel mehr Menschen sterben als zu dieser Jahreszeit üblich. In vielen Ländern liegt die Sterberate in der zweiten März- und der ersten Aprilhälfte weit über den statistisch zu erwartenden Werten. Diese sogenannte Übersterblichkeit ist in vielen Regionen sogar weitaus größer, als es die bestätigen Todesfälle durch Covid-19 vermuten lassen.

Besonders drastisch ist die Sterblichkeit in der norditalienischen Region Lombardei gestiegen. Zum Höhepunkt der Epidemie im März verstarben in einigen Gemeinden mehr als dreimal so viele Menschen wie üblich. Dies geht aus einer vorläufigen Auswertung des Istituto Nationale di Statistica hervor. Anfang April ist die Sterblichkeit gefallen, lag aber weiterhin deutlich über dem Mittelwert der Jahre 2015 bis 2019.

Auch in England und Wales ist seit Ende März ein deutlicher Anstieg der Sterblichkeit zu sehen. Das zeigen Daten, die das Office of National Statistics des Vereinigten Königreichs veröffentlicht hat.

Aus den USA liegen noch keine entsprechenden Daten vor. In New York, wo das Virus besonders heftig wütet, hat die städtische Gesundheitsbehörde immerhin erste Zahlen veröffentlicht. Neben den 8000 bestätigten Corona-Toten hat die Behörde weitere 4000 Fälle als "wahrscheinliche" Opfer von Covid-19 eingestuft. Damit lässt sich die aktuelle Übersterblichkeit in der Metropole zu einem großen Teil erklären.

Für Deutschland hat das Statistische Bundesamt bislang nur die Sterbefälle bis Mitte März veröffentlicht. Sie lassen keine Übersterblichkeit erkennen - diese wäre allerdings auch frühestens für die zweite Märzhälfte zu erwarten. Auch in Zukunft sei mit einer Veröffentlichung erst nach jeweils etwa dreißig Tagen Verzögerung zu rechnen, teilt die Behörde mit. Demnach lässt sich erst Ende April absehen, ob es auch in Deutschland zu einer Übersterblichkeit gekommen ist - ob also im Zuge der Pandemie mehr Menschen starben als im langjährigen Mittel üblich. Auch mehrere Statistische Landesämter konnten auf Anfrage keine aktuellen Zahlen nennen. Es würden noch Daten aus den örtlichen Standesämtern fehlen, außerdem gebe es ein große "Unklarheit über die Qualität der Rohdaten", teilte etwa das Bayerische Landesamt für Statistik mit. Das Robert-Koch-Institut hält für wahrscheinlich, dass auch in Deutschland die Zahl der Covid-19-Toten unterschätzt wird. In den meisten Bundesländern werden Verstorbene nur selten nachträglich auf den Erreger untersucht.

Dass nicht alle Todesfälle mit einer bestimmten Ursache erkannt werden und stattdessen die generelle Statistik nach Auffälligkeiten untersucht wird, ist nicht ungewöhnlich. "Die Übersterblichkeit wurde lange Zeit vor allem genutzt, um die Wucht von Grippewellen einzuschätzen", sagt Berit Lange, Epidemiologin vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. In den vergangenen Jahren habe man anhand der Übersterblichkeit auch Gefahren durch Hitze in Sommermonaten bestimmt.

Laut Lange gibt es theoretisch vier Erklärungen, warum die Übersterblichkeit deutlich höher ausfallen kann, als es die offizielle Covid-19-Statistik ausweist. Zunächst kann eine Art Dunkelziffer unerkannter Corona-Opfer verborgen bleiben. Sie kann von Land zu Land sehr unterschiedlich ausfallen, weil die Toten unterschiedlich gezählt werden. Manchmal werden nur Verstorbene in Krankenhäusern auf das Virus getestet. Viele, die zu Hause verstarben, fließen zwar in die Todesstatistik ein, bleiben aber als Opfer des Coronavirus unentdeckt.

Diese übersehenen Covid-19-Toten dürften den größten Teil der unerklärten Übersterblichkeit ausmachen.

Zu den zusätzlichen Toten könnte Covid-19 jedoch auch indirekt beigetragen haben, indem das Gesundheitssystem überlastet wurde. Aus manchen Regionen Italiens gab es Berichte von Ärzten, die Patienten ohne Covid-19-Erkrankung nicht mehr so gut versorgen konnten, wie es notwendig gewesen wäre, weil die Ressourcen gebunden waren. "In Deutschland ist das bislang noch nicht vorgekommen", sagt Lange. "In der Lombardei hingegen ist die Differenz zwischen offiziellen CovidTodeszahlen und der gemessenen Übersterblichkeit relativ groß. Es ist hier möglich, dass eine indirekte Krankheitslast durch die Überlastung regionaler Gesundheitssysteme durch Covid-19-Erkrankte hinzukommt."

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Als dritten Bereich führt Lange indirekte Effekte durch die Pandemie an. Die schweren ökonomischen Schäden können auch schädliche gesundheitliche Folgen haben, die sich irgendwann in den Zahlen widerspiegeln. "Diese Fälle sehen wir aktuell aber vermutlich noch nicht, es handelt sich eher um einen langfristigen Effekt", sagt Lange.

Zuletzt trägt womöglich auch die Antwort der Gesellschaft auf die Pandemie dazu bei, dass mehr Menschen sterben. Durch die Kontaktbeschränkungen können Menschen mit mentalen Problemen oder Depressionen nicht mehr angemessen psychiatrisch versorgt werden. Auch die reguläre Versorgung durch die Hausärzte geht zurück. All dies könne zu höherer Sterblichkeit führen, sagt Lange. Doch bislang sei dies nicht durch Studien untersucht oder gezeigt worden.

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