Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Die unsichtbare Welle

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Die Infektionszahlen in Deutschland gehen zurück. Doch erste Daten zur Verbreitung der Variante B.1.1.7 deuten darauf hin, dass es damit bald vorbei sein könnte. RKI-Chef Wieler rechnet mit einer weiteren Ausbreitung. Eine Analyse mit Grafiken.

Von Christina Berndt, Christian Endt und Sören Müller-Hansen

Die in England zuerst aufgetretene Corona-Variante greift auch in Deutschland um sich. Das ist Daten zur Verbreitung der Variante namens B.1.1.7 zu entnehmen, die das Robert-Koch-Institut (RKI) am Freitag erstmals veröffentlicht hat. Das mutierte Virus macht demnach 5,8 Prozent aller Infektionen mit Sars-CoV-2 in Deutschland aus. Insgesamt gibt es 1 800 Nachweise von B.1.1.7. Die Auswertung des RKI geht von Neujahr bis 29. Januar, inzwischen könnte die Variante bereits weiter verbreitet sein. "Es ist mit einer weiteren Erhöhung des Anteils der Virusvariante B.1.1.7 zu rechnen", schreibt das RKI.

Die Daten stammen sowohl aus erweiterten PCR-Tests, mit denen die Varianten mittlerweile entdeckt werden können, als auch auf Sequenzierungen des gesamten Viruserbguts. Zur Verbreitung der Varianten B.1.351 aus Südafrika und P.1 aus Brasilien enthält der Bericht keine belastbaren Daten. Die südafrikanische Variante wurde demnach 27-mal nachgewiesen.

In Großbritannien dominiert die Variante B.1.1.7 mittlerweile das Infektionsgeschehen: In fast 90 Prozent aller untersuchten Proben wurde dort zuletzt die Mutation nachgewiesen, in London sind es bereits 97 Prozent. Diese Zahlen stammen aus dem aktuellen Bericht der nationalen Gesundheitsbehörde Public Health England.

Auch in Dänemark breitet sich die Variante aus und macht dort inzwischen jede fünfte Infektion aus.

"Die Verdrängung der anderen Varianten durch B.1.1.7 deckt sich mit den Erwartungen basierend auf der Ausbreitung in England und anderswo", sagt Sebastian Funk, Epidemiologe an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Gegenüber dem herkömmlichen Sars-Cov-2-Virus ist die Variante um etwa 30 bis 50 Prozent ansteckender, hat also eine höhere Reproduktionszahl. In vielen europäischen Ländern liegt die Reproduktionszahl aufgrund der Lockdown-Maßnahmen derzeit knapp unter 1,0, die Fallzahlen gehen also insgesamt zurück. Doch B.1.1.7 vermehrt sich währenddessen mit der erhöhten Reproduktionszahl, gewinnt also an Anteil.

Wenn RKI-Präsident Lothar Wieler also sagt, die Mutante dominiere das Geschehen in Deutschland noch nicht, so liegt die Betonung auf noch. Während die Kurve der Fallzahlen weiterhin sinkt, breitet sich die Variante zunächst im Verborgenen aus. Sobald sie Oberhand erlangt, nimmt auch die Gesamtzahl der Fälle wieder zu. Die Parameter von B.1.1.7 lassen sich den Studien aus Großbritannien nicht präzise entnehmen, daher ist offen, wann und wie rasant die Kurve zu steigen beginnt.

Die Gefahr einer solchen Pandemie in der Pandemie ist, dass die noch dominierenden alten Virusvarianten erst einmal den Verlauf der Neuinfektionen bestimmen. Die Fallzahlen sinken noch eine Weile, erst schnell, dann immer langsamer. Dass sich Mutanten wie B.1.1.7 längst exponentiell verbreiten, ist nur mit spezifischen Tests zu erkennen. Wenn B.1.1.7 um 40 Prozent ansteckender ist, würde sich die Entwicklung im März allmählich wandeln, B.1.1.7 würde die Oberhand gewinnen, die Fallzahlen würden wieder steigen - obwohl sich die Maßnahmen nicht verändert haben. So war es bereits Ende vergangenen Jahres in Großbritannien zu beobachten.

Die Daten zur Gefährlichkeit von B.1.1.7 sind jedoch mit einer Unsicherheit behaftet, weshalb dieses Szenario nur eine Möglichkeit darstellt. Die Berechnungen hängen stark davon ab, wieviel ansteckender B.1.1.7 und andere Mutanten wirklich sind. Nimmt man eine nur um 30 Prozent erhöhte Ansteckungswahrscheinlichkeit an, so würden die Fallzahlen bei gleichbleibenden Maßnahmen erst im April wieder merklich ansteigen. Zuvor würde die Inzidenz die Zielmarke von 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner pro Woche unterschreiten. Dadurch könnte etwa die Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter wieder effektiver und eine nächste Welle womöglich verhindert werden.

Andererseits könnte B.1.1.7 auch um 50 Prozent ansteckender sein als die bisherigen Varianten. So hat es RKI-Präsident Wieler am Freitag in einer Pressekonferenz angenommen. In einem solchen Szenario würde die Inzidenz in die Höhe schnellen, ohne einen verschärften Lockdown oder einen bald einsetzenden Effekt von genügend Impfungen wäre so sogar eine Inzidenz von mehr als 1000 gegen Ende April möglich.

Christian Drosten hält einen aktuellen Anteil von 5,8 Prozent der Mutante an allen Infektionen in Deutschland für realistisch, wie er der SZ mitteilte. Gemeinsam mit seinem Team hat der Corona-Experte und Leiter der Virologie an der Berliner Charité an der Erfassung von B.1.1.7 mitgewirkt. Eine selektive Analyse schließt er aus: In den großen niedergelassenen Laboren seien die Positivproben auf die Variante nachgetestet worden, "so wie sie reinkamen", erklärte Drosten. Es sei also nicht nur bei Ausbrüchen näher hingesehen worden, wodurch der Anteil von nachgewiesenen Mutanten wegen ihrer höheren Infektiosität künstlich erhöht sein könnte. Auch bei den Beiträgen der Unikliniken sei keine Verzerrung zu erwarten, "weil auch dort unvoreingenommen positive Proben getestet wurden", so Drosten.

Auch Michael Meyer-Hermann hält die Angaben des RKI zur Verbreitung der Variante für plausibel. Was die erhöhte Ansteckungsrate angeht, würden die Befunde aus England auch für Deutschland gelten: "Es gibt keinen Grund, warum die Variante in Deutschland eine andere Übertragbarkeit haben sollte als in England", sagt der Epidemiologe vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Der R-Wert von B.1.1.7 liege also um 30 bis 50 Prozent über dem des herkömmlichen Sars-Cov-2.

In Großbritannien hatte sich B.1.1.7 zuerst stark in Schulen ausgebreitet. Deshalb hielten Wissenschaftler es zunächst für möglich, dass sich die Variante unter jungen Menschen besonders leicht verbreitet. Inzwischen gilt diese These jedoch als verworfen, der Anteil der Variante unter allen Infektionen unterscheidet sich zwischen den Altersklassen nur geringfügig.

Als wahrscheinlich gilt dagegen inzwischen, dass die Variante nicht nur ansteckender ist, sondern auch bei einem erhöhten Anteil der Infizierten zu einem schweren Verlauf führt. Auch die Sterblichkeit ist erhöht, und zwar den vorläufigen Daten zufolge ebenfalls um 30 bis 50 Prozent. Hier ist die Unsicherheit allerdings noch groß. "Sowohl die erhöhte Ansteckungsrate als auch die höhere Sterblichkeit haben Auswirkungen auf die erwartete Belastung für das Gesundheitssystem", sagt Sebastian Funk, "wie auch auf die Härte und Länge der notwendigen Maßnahmen zur Einschreckung." Das Virus hat im Vergleich zum ursprünglichen Sars-CoV-2 zahlreiche Mutationen erworben, die seine Eigenschaften verändert haben. Ähnliches gilt auch für die Varianten aus Südafrika und Brasilien, deren Auswirkungen ähnlich schwer zu kalkulieren sind.

In Großbritannien hat die Variante im Dezember zu einem rasanten Anstieg der Fallzahlen beigetragen, die 7-Tage-Inzidenz stieg landesweit zeitweise auf mehr als 600. Mit einem relativ harten Lockdown seit 4. Januar gelingt es der Regierung seither, die Fallzahlen deutlich zu senken. Das zeigt, dass sich auch die Variante B.1.1.7 eindämmen lässt. "Wir sind erfreut und zu einem gewissen Grad positiv überrascht", sagt Funk. Beigetragen hätten dazu eine konsequente Schließung der Schulen sowie ein erhöhtes Bewusstsein der Bevölkerung: "Das sehen wir an den Mobilitätsdaten", sagt Funk. Durch die rasante Verbreitung des Virus im Dezember sei inzwischen aber auch ein nennenswerter Teil der englischen Bevölkerung immun.

Wie sehr sich die Mutanten auf den Impfschutz auswirken, ist noch unklar. Manche Studien legen nahe, dass Antikörper, die der Mensch als Reaktion auf die Impfung bildet, gegen die mutierten Viren nicht mehr so effektiv sein könnten. Das gilt aber nicht für alle Impfstoffe und auch nicht für alle Mutanten gleichermaßen. So fiel die Wirkung des Moderna-Impfstoffs gegen die Südafrika-Variante in einer Untersuchung der Firma tatsächlich auf etwa ein Sechstel ab, während sie gegen B.1.1.7 erhalten blieb. Auch der in Deutschland noch nicht zugelassene Novavax-Impfstoff bringt gegen B.1.1.7 noch einen 85-prozentigen Schutz, der gegen B.1.351 unter 50 Prozent fällt. Von Biontech kamen dagegen zuletzt beruhigende Nachrichten: Selbst gegen eine Kombination der englischen Variante B.1.1.7 mit der südafrikanischen Variante B.1.351 wirkten Seren von Menschen, die mit dem Biontech-Vakzin geimpft worden waren, noch fast genauso gut wie gegen das Ursprungsvirus.

Hinzu kommt, dass die Impf-Reaktion gegen das Virus nicht nur aus Antikörpern besteht, sondern aus einer Vielzahl von Immunreaktionen. Deshalb gehen manche Virologen wie Ulrike Protzer von der TU München davon aus, dass einzelne Mutationen der Impf-Wirkung erst einmal wenig anhaben.

Möglich ist die Pandemiebekämpfung auch mit den ansteckenderen Varianten. Doch: "Die aktuellen Maßnahmen reichen nicht aus, um B.1.1.7 zu kontrollieren", sagt Michael Meyer-Hermann, "die Chance, die wir haben ist, die Fallzahlen so früh in den Bereich von Inzidenz 10 zu bekommen, dass wir mit Hilfe der Nachverfolgung und mit konsequenten Quarantäne-Maßnahmen in der Lage sind, alle Fälle zu kontrollieren. Deshalb ist es extrem dringend erstens nicht zu lockern, zweitens die Umsetzung der jetzigen Maßnahmen effizienter zu machen und drittens die Gesundheitsämter vorzubereiten." Man müsse schnell handeln, um der Expansion von B.1.1.7 zuvorzukommen.

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