Coronavirus:Zu schön, um wahr zu sein

  • Thesen von der vermeintlichen Harmlosigkeit des Coronavirus werden zuhauf im Netz verbreitet.
  • Doch die These, dass es die Pandemie nur gebe, weil auf das Virus getestet werde, ist nicht zu halten.
  • Die Politik muss heute Entscheidungen treffen - nicht nach Monaten intensiver, evidenzbasierter Forschung.

Von Christina Berndt

In der Schlange an der Supermarktkasse hört man sie jetzt ebenso wie am Telefon mit Freunden und auch in Foren von Scientologen, Reichsbürgern und Impfgegnern: die Meinung, es sei ja alles gar nicht so schlimm. Die Covid-19-Pandemie? Nicht schwerwiegender als die übliche Grippewelle, und wenn man nicht ständig Menschen mit dem leisesten Husten einem Test unterziehen würde, dann würde man gar nichts davon merken. Diese These wird verbreitet von Ärzten und Epidemiologen, zum Teil mit gewichtigen Titeln, ihre Texte und Videos werden im Netz hunderttausendfach geteilt. Besonders erfolgreich im deutschsprachigen Raum: Wolfgang Wodarg, gelernter Lungenarzt, Ex-SPD-Bundestagsabgeordneter und Transparency-Deutschland-Vorstand.

Die Botschaft ist ja auch zu schön, um wahr zu sein. Wer sie glaubt, kann beruhigt sein, er muss sich nur noch über die dummen Politiker aufregen, die den Menschen gerade unnötig das Leben schwer machen. Das Problem ist nur: Die Botschaft ist tatsächlich zu schön, um wahr zu sein. Nur leider muss man viel wissen, um die Fakten von den Mythen zu trennen. Zum Beispiel so viel wie der Virologe Georg Bornkamm, der bis zu seiner Emeritierung Professor am Helmholtz-Zentrum München war.

"Ich habe mich in den letzten Tagen intensiv mit Theorien wie denen von Wolfgang Wodarg auseinandergesetzt", sagt Bornkamm. "Es ist gar nicht so einfach, die Fehler in deren Gedankengebäude zu fassen und zu widerlegen, denn sie bauen ein konsistentes Bild auf, für das sie zum Teil richtige Fakten verwenden, zum Teil aber auch völlig falsche." Zum Beispiel: Coronaviren gab es schon immer, sie sind in jeder Grippesaison für einen Teil der Atemwegsinfektionen bis hin zur Lungenentzündung verantwortlich. So viel ist an Wodargs These richtig, sagt Bornkamm. "Aber das neue Coronavirus ist den bisherigen Viren keineswegs ähnlich." Auch wenn alle Coronaviren zu einer Virenfamilie gehören, können sie sich voneinander unterscheiden wie ein Hai von einem Stichling, die beide Fische sind. Das neue Sars-CoV-2 sei genetisch nur ein entfernter Verwandter der anderen Coronaviren, deshalb könne es beim Testen auch nicht mit den älteren Viren verwechselt werden. Covid-19 komme also zu den üblichen Atemwegserkrankungen hinzu. "Die These, die Pandemie gebe es nur, weil getestet werde, ist absolut nicht haltbar", so Bornkamm.

"Warten und auf ein Wunder hoffen ist keine Option"

Trotz solchen Gegenwinds fühlt sich Wolfgang Wodarg nur bestätigt statt widerlegt, seit er ein Video mit seinen Behauptungen vor einigen Tagen ins Netz gestellt hat. Am Telefon betont er erneut seine Schlussfolgerung, wonach man die Infektionen mit dem neuen Virus gar nicht zur Kenntnis nähme, wenn nicht gezielt danach gesucht würde; die Sterblichkeit sei selbst in Italien nicht höher als in anderen Wintern mit der normalen Grippe. "Wenn wir den Test nicht hätten, würden wir nichts merken."

Wodarg verweist auf einen bekannten Fachmann - John Ioannidis, einen streitlustigen Epidemiologen von der Stanford-Universität. Ioannidis hat in der vergangenen Woche in einem viel beachteten Artikel infrage gestellt, ob es wirklich nötig ist, Millionen Menschen Hausarrest aufzubrummen und die Wirtschaft in eine Baisse zu treiben. Sein Fazit: Man weiß viel zu wenig über das neue Virus, um so drakonische Maßnahmen zu ergreifen. Womöglich würde sich kein Mensch für dieses Virus interessieren, wenn man nicht gezielt danach suchen würde, meinte Ioannidis, womöglich erledige sich die Epidemie sogar von selbst.

Deshalb tue man mit seiner Bekämpfung vielleicht mehr Schlechtes als Gutes. Wenn sich das Virus eines Tages als gar nicht so todbringend erweise wie befürchtet, dann wäre ein Elefant aus Angst vor einer Katze von der Klippe gestürzt. Schließlich haben die gegen die Ausbreitung der Pandemie getroffenen Maßnahmen zweifelsohne auch ungesunde Folgen. Gewiss werden Angsterkrankungen und Depressionen zunehmen, Patienten mit anderen Krankheiten, deren Behandlung jetzt aus Angst vor Corona verschoben werden, werden kränker oder versterben womöglich.

Tatsache ist: Wie gefährlich Sars-CoV-2 ist, weiß momentan niemand. "Das Virus ist womöglich nicht so gefährlich, das mag stimmen", sagt auch Georg Bornkamm. "Die überwiegende Zahl der Infektionen verläuft milde, nur ein kleiner Teil der Betroffenen entwickelt sehr schwere Symptome." Das Problem entstehe vor allem dadurch, dass es bisher keine Immunität gegen das neue Virus gebe. So sei letztlich unklar, wie viele Menschen sterben müssen. Auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess etwa kamen in der Tat nur ein Prozent der - nicht eben jungen - Reisenden, die sich infizierten, zu Tode. In Deutschland liegt die Letalität derzeit bei geringen 0,4 Prozent der nachweislich Infizierten. Zwar läuft die Kurve der Todesfälle der Kurve der Infektionen um etwa 14 Tage hinterher - so lange dauert es im Mittel zwischen Infektion und Tod, sofern dieser eintritt. Doch gewiss gibt es eine hohe Dunkelziffer an Infizierten, die wegen eines milden Verlaufs niemals beim Test waren; dadurch erscheint die Tödlichkeit des Virus höher, als sie in Wirklichkeit ist. Und sicher wird nicht gut genug unterschieden, ob Menschen wegen des Coronavirus sterben oder nur mit ihm. "Man kann das Sterblichkeitsrisiko erst dann abschätzen, wenn man weiß, wie viel mehr Menschen als üblich am Ende gestorben sind", sagt Bornkamm.

Insofern haben Kritiker der Maßnahmen gegen Sars-CoV-2 wie Ioannidis, Wodarg oder der Mainzer Mikrobiologie-Emeritus Sucharit Bhakdi in einem Punkt zweifelsohne recht: Es ist noch nicht viel über das Virus bekannt. Aber das ist nun einmal so bei einer nie da gewesenen Krankheit. Und die Politik muss Entscheidungen treffen - heute, nicht nach Monaten intensiver, evidenzbasierter Forschung. Es stimme natürlich, dass die Daten nicht ausreichen, schreibt der Infektionsepidemiologe Marc Lipsitch von der Harvard School of Public Health in einer Entgegnung auf Ioannidis. Trotzdem seien zwei Dinge klar.

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Erstens: Die Zahl schwerer Fälle wächst beängstigend in jedem Land, in dem sich Covid-19 ungezügelt ausbreitet. Zweitens: Ohne Kontrollmaßnahmen wird sie entsetzliche Ausmaße annehmen. "In Italien sammeln sich die Särge von Covid-19-Opfern in den Kirchen", so Lipsitch. Und in Wuhan sei die Zahl kritischer Fälle so hoch gewesen, dass diese, auf die USA gerechnet, jedes Intensivbett füllen würden. Wer zu lange wartet, riskiere den Kollaps des Gesundheitssystems, und dessen Funktionieren sei essenziell, um die Sterblichkeit gering zu halten. "Warten und auf ein Wunder hoffen ist keine Option."

Wie Ioannidis heute denkt, eine Woche nach Erscheinen seines Artikels und den katastrophalen Entwicklungen in Italien, hat er der SZ bis Redaktionsschluss nicht verraten. Lipsitch kommt zu dem Schluss, dass er nach einem Telefonat mit dem gerne provokativ auftretenden Ioannidis "mehr mit ihm gemeinsam hat", als er nach dem ersten Lesen seines Textes dachte. Dem Ruf nach bestmöglicher Evidenz könne er sich zumindest anschließen.

Das sieht auch Ulrich Dirnagl so, der am Berlin Institute of Health eng mit Ioannidis zusammenarbeitet. Zwar hält er dessen These, dass sich ohne die Tests womöglich niemand für dieses Virus interessieren würde, mit Blick auf Italien für widerlegt. Umso wichtiger sei es nun, die Schaffung echter Evidenz voranzutreiben. "Nur dann kann die Politik sinnvoll entscheiden: Wann beenden wir die Maßnahmen, wie kommen wir da wieder raus?"

Hinweis der Redaktion: In einer vorigen Version war der Satz zur Letalität missverständlich formuliert. Deshalb wurde er geändert.

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