Süddeutsche Zeitung

Coronavirus-Grafiken:Rotes Land

Auf Nachrichtenseiten, beim Robert-Koch-Institut, auf der Übersichtsseite der Bundesregierung: Bei der Darstellung der Corona-Inzidenzwerte dominiert momentan vor allem eine Farbe. Rot. Das hilft nicht immer beim Verständnis.

Von Sarah Unterhitzenberger und Benedict Witzenberger, München

Wie emotional momentan zum Teil über Farben in Corona-Grafiken diskutiert wird, zeigt ein aktuelles Beispiel: Die "Tagesschau" sah sich kürzlich mit dem Vorwurf konfrontiert, Farbskalen zu manipulieren, um die Inzidenzwerte schlimmer darzustellen, als sie wären.

Auf ihrem Instagram-Account hatte die Nachrichtensendung zwei Deutschlandkarten mit Inzidenzwerten pro Landkreis veröffentlicht. Im März waren auf der Karte die Landkreise mit einer Inzidenz über 50 in Orange eingefärbt, im April waren diese Kreise plötzlich rot. Der Grund seien zwei verschiedene Ausspielwege gewesen, heißt es bei der "Tagesschau": Die hellere Farbskala war für das Fernsehen gedacht, die dunklere für die Webseite.

Dass Rot von vielen Infografikern verwendet wird, hat Gründe. Das menschliche Auge reagiert darauf sehr stark und schnell - es hat das im Laufe der Evolution gelernt. "Rotes Blut und frisches Fleisch erzeugen emotionale Erregung", sagt Axel Buether, Professor für Didaktik der visuellen Kommunikation an der Bergischen Universität Wuppertal. Für den Einsatz von Rot gibt es viele Beispiele: die rote Karte beim Fußball, Stoppschilder und natürlich die Verkehrsampel.

Die Corona-Karten werden röter

Die Abfolge der Ampelfarben Grün, Gelb und Rot ist weltweit eindeutig. Die Logik "gut, mittel, schlecht" wird deshalb auch in vielen Corona-Darstellungen übernommen. Nur werden die nicht-roten Bereiche in Deutschlandkarten aktuell immer weniger. Denn die Zahl der Neuinfektionen steigt, dazu kommt der Grenzwert mit einer Inzidenz von 100, der besonders hervorgehoben werden soll. Weil viele Karten bereits in der ersten Welle alle Abstufungen von Rot ausgenutzt haben, werden seit dem Herbst die Zahlen, die den Farben zugeordnet sind, weiter nach oben gesetzt. Die Karten werden immer mehr zu einem roten Fleck. Ein Zustand, den Axel Buether problematisch findet: "Man muss sich überlegen, ob man jeden Tag visuell Hilfe schreien kann." Dadurch verliere das Rot bei vielen Menschen seine Wirkung. Sie gewöhnten sich daran, die roten Karten würden keine Verhaltensänderung mehr bewirken. Andererseits gebe es auch Menschen, die durch die großflächig roten Karten auch in Panik versetzt würden, in eine Art Daueralarm.

Denn Farbe funktioniert wie Sprache. Im Gegensatz zu einer Zahlentabelle, in der man erst die Ziffern einzeln nacheinander lesen und dann verstehen muss, erschließt sich deren Bedeutung in einer eingefärbten Karte sehr viel schneller. "Farbe ist das leistungsfähigste Kommunikationsmittel, das es auf der Welt gibt", sagt Buether. Doch sie hat einen Haken: Nicht alle Menschen verstehen dieselbe Sprache. Manche können bestimmte Farben nicht eindeutig voneinander unterscheiden und sind von einer genetisch bedingten Farbfehlsichtigkeit betroffen.

Infografiken müssen auch bei Farbenblindheit verständlich sein

Die Rot-Grün-Sehschwäche ist am weitesten verbreitet. Bis zu acht Prozent der Männer, aber nur 0,5 Prozent der Frauen mit nordeuropäischer Abstammung sind davon betroffen. Ein Bruchteil der Betroffenen kann überhaupt keine Farben erkennen und sieht daher seine Umwelt wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Doch auch diese Menschen sollen Infografiken verstehen können. Mit Ampelfarben in ihrer Reinform geht das nicht. Darin sehen rote Höchstwerte für sie genauso aus wie grüne Tiefstwerte und können nicht unterschieden werden.

Axel Buether meint, dass Infografiker Verantwortung dafür zeigen sollten, und plädiert für andere Darstellungen. Eine bessere Option wäre das Hell-Dunkel-Schema. Farbfehlsichtige können zwar bestimmte Farben nicht voneinander unterscheiden, Kontraste jedoch gut wahrnehmen. Also Farbtöne wie etwa Hellgrün und Dunkelrot, die sich deutlich in ihrer Helligkeit unterscheiden.

Auch die logische Unterteilung von hell zu dunkel ist kein Zufall und hat mit der Evolution zu tun. Wenn wir einen dunklen Himmel sehen, fühlen wir uns davon bedroht und sind positiv gestimmt, wenn er sich wieder aufhellt. Als Kind gruseln wir uns vor der Dunkelheit im Keller. "Studien zeigen, dass schon kleine Kinder von hell zu dunkel sortieren", so Buether. Gut gewählte Ampelfarben, kombiniert mit einem Hell-Dunkel-Schema machen Infografiken also verständlich. Manche Medien nutzen gar ausschließlich die Helligkeit für ihre Corona-Visualisierungen, zum Beispiel mit verschiedenen Abstufungen von Blau.

Doch selbst das Hell-Dunkel-Schema hat eine kleine Schwäche: "Graduelle Unterschiede erkennt das Auge auf den ersten Blick nicht klar genug", so Buether. Infografiker sollten daher nicht zu viele Abstufungen verwenden. Eine Herausforderung ist auch, eine farbliche Entsprechung für immer neue Inzidenz-Höchstwerte zu finden. Schwarz als Maximum hält Axel Buether für ungeeignet, das assoziiere man vor allem mit Bedrohung.

Neben diesen eher funktionalen Aspekten spielen auch Emotionen eine Rolle: Farben wie Grün, Blau oder Weiß wirken positiver - und geben den Menschen Hoffnung, dass auch Besserung möglich ist. In Italien haben sich die "weißen" Regionen mit niedrigen Inzidenzen auf der Corona-Karte inzwischen zu einer Art Freiheitssymbol entwickelt. Eine weiße Region zu werden, kann die Menschen anspornen, ihr Verhalten zu ändern. Wenn es um die Impfzahlen geht, werden inzwischen oft Blau oder Grün genutzt.

Solange die Inzidenzwerte jedoch weiter hoch liegen, werden die meisten Karten rot bleiben - auch bei der "Tagesschau". Allerdings hat man sich dort jetzt auf eine einheitliche Farbskala geeinigt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5267203
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.