Süddeutsche Zeitung

Pandemie:Der verflixte R-Wert

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Sie ist eine der wesentlichen Zahlen, die beschreiben, wie sich das Coronavirus in Deutschland verbreitet: Die Reproduktionszahl. Ein Überblick.

Von Sören Müller-Hansen und Benedict Witzenberger

Steigt sie, oder sinkt sie? Die Bewegung der Reproduktionszahl beschäftigt gerade ganz Deutschland. Denn unter anderem von ihr hängt es ab, wie sich die Corona-Beschränkungen für unseren Alltag entwickeln. Der R-Wert soll einen Eindruck geben, wie sich die Neuinfektionen verändern. Es gibt aber nicht nur eine Reproduktionszahl, sondern gleich mehrere.

Die Basisreproduktionszahl, gerne als R-Null abgekürzt, gibt an, wie ansteckend eine neue Krankheit ist, wenn es in einer Gruppe von Menschen noch keine Kranken, Impfungen oder Resistenzen gibt. Das hängt von den Krankheitserregern selbst ab - etwa davon, wie viele Viren es braucht, um einen neuen Wirt anzustecken, oder von der Art, wie sich die Viren verbreiten (als Aerosole, durch Tröpfcheninfektion) - aber auch davon, wie viel Kontakt die Menschen untereinander haben und wie dicht sie beisammen leben. Für das Coronavirus schätzt das Robert Koch-Institut (RKI) R-Null auf zwischen 2,4 und 3,3. Das bedeutet: Zehn Kranke stecken zwischen 24 und 33 andere Menschen an.

Der R-Wert, auf den die Menschen aktuell schauen, ist aber ein anderer: die effektive Reproduktionszahl. Sie gibt an, wie viele Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem Kranken angesteckt wurden. Hier spielen auch bereits Erkrankte und Genesene eine Rolle: Wer schon infiziert ist, kann gerade nicht nochmal infiziert werden, wer schon genesen ist, hat möglicherweise Antikörper und kann sich in diesem Fall nicht nochmal anstecken. Weil sich diese Zahl für einzelne Zeiträume berechnet, zeigt sie Veränderungen: Wirken Ausgangsbeschränkungen? Was passiert, wenn Schulen oder Geschäfte geöffnet werden?

Bleibt der R-Wert unter 1, reichen die Maßnahmen aus, um die Epidemie zu bremsen. Steigt der Wert wieder über 1, nimmt der Ausbruch erneut an Fahrt auf.

Der Meldeverzug

Die Reproduktionszahl hängt eng mit der Zahl der Neuinfektionen zusammen. Das Robert Koch-Institut berechnet das effektive R rückwärts aus den Tagen mit den ersten Krankheitssymptomen der bekannten Fallzahlen. Weil aber nicht für alle Fälle der Tag bekannt ist, an denen sie sich angesteckt haben, schätzt das RKI die fehlenden Termine. In der Statistik gibt es dafür den Begriff "Imputation".

Dafür leitet das RKI die durchschnittliche Dauer zwischen Erkrankungsbeginn und Meldung aus den bekannten Daten ab, und fügt die Fälle mit unbekanntem Datum innerhalb einer bestimmten Spanne ein. Im Vergleich mit dem gleitenden Mittelwert über die jeweils vergangenen sieben Tage ist die Kurve der Neuerkrankungen nach links verschoben.

Die Berechnung der Reproduktionszahl

Weil diese Imputation aber nie genau ist, versucht das RKI diese Unsicherheit über eine Simulation anzunähern. Der Gedanke dabei: Indem man die Zuteilung der unbekannten Ansteckungstage ganz oft wiederholt, ergibt sich ein Intervall, innerhalb dessen der korrekte R-Wert wahrscheinlich liegt.

Ist diese Imputation durchgeführt, dann beginnt die Berechnung des R-Werts (das RKI erläutert seine Berechnung für Epidemiologen in einem PDF).

Wie sich 4-Tage-R und 7-Tage-R unterscheiden

Die Reproduktionszahl ist keinesfalls ein Zufallsprodukt, sie beruht auf der immer gleichen Berechnungsmethode. Dennoch verhält sie sich bisweilen sprunghaft. Rauscht sie für ein paar Tage steil nach oben, kann man sich fast sicher sein, dass sie sich anschließend wieder auf Talfahrt begibt. Das ist aber weniger ein Problem der Berechnungsmethode als der Datengrundlage. So ist beispielsweise in den täglich neu gemeldeten Fallzahlen deutlich ein Wochenrhythmus erkennbar: Unter der Woche melden die Gesundheitsämter mehr Neuinfektionen als am Wochenende. Die Schätzung des tatsächlichen Erkrankungsbeginns, das sogenannte Nowcasting, kann diesen Effekt nur bedingt ausgleichen.

Um diese Schwankungen zu beseitigen, berechnet das RKI neben dem bereits beschriebenen 4-Tage-R-Wert auch noch den 7-Tage-R-Wert, auch geglättetes R genannt. Das Institut muss dafür schätzen, wie viele Menschen sich innerhalb eines Zeitraums von sieben Tagen neu angesteckt haben. Da nun jeder Wochentag einmal eingerechnet wird, verschwinden die Wochenendeffekte.

Warum gibt es dann überhaupt zwei R-Werte? Der 4-Tage-R-Wert ist aktueller, er reagiert schneller auf kurzfristig steigende Fallzahlen. Da es bei der Pandemiebekämpfung auf jeden Tag ankommt, kann er ein wichtiges Warnsignal sein. Der 7-Tage-R-Wert hingegen ist ideal für den Blick zurück, lässt eine Einschätzung über die langfristige Entwicklung der Pandemie zu und reagiert weniger empfindlich auf lokale Ausbrüche. Wenn es zu so großen Ausbrüchen wie zuletzt bei Tönnies in Gütersloh mit mehr als 1000 Neuinfektionen innerhalb weniger Tage kommt, kann das aber auch der 7-Tage-R-Wert nicht mehr ausgleichen.

Die Korrektur

Der täglich vom RKI gemeldete R-Wert steht nicht unverrückbar fest, er ändert sich noch. Viele Neuinfektionen werden erst Tage später nachgemeldet, dem langsamen Meldesystem zwischen Ärzten, Gesundheitsämtern und RKI geschuldet. Mit zunehmendem Wissen über die tatsächlich erfassten Fallzahlen wird auch die Berechnung der Reproduktionszahl genauer, häufig werden so auch nachträglich noch größere Ausschläge nach oben oder unten geglättet. Erst nach knapp zwei Wochen steht der endgültige R-Wert fest. Der finale R-Wert liegt meist innerhalb des anfangs angegebenen 95-prozentigen Konfidenzintervalls, das den Unsicherheitsbereich angibt. Die Schätzungen des RKI sind also gut, sollten aber nie ohne die Ober- und Untergrenze des Unsicherheitsbereichs betrachtet werden.

Der R-Wert allein reicht nicht

Je weniger Neuinfektionen mit dem Coronavirus es in Deutschland insgesamt gibt, desto häufiger sorgen auch einzelne lokal begrenzte Ausbrüche dafür, dass der R-Wert stark ausschlägt. Würde man nur die Reproduktionszahl kennen und sonst nichts, entstünde der Eindruck einer dramatischen Situation in ganz Deutschland. Das entspricht aber nicht der Realität. Deshalb ist ein deutschlandweiter R-Wert bei niedrigen Infektionszahlen nur bedingt aussagekräftig. Bei der Berechnung ignorieren darf man lokale Ausbrüche allerdings auch nicht. Solche sogenannten Super-Spreading-Ereignisse, bei denen es an einem einzigen Ort zu sehr vielen Neuinfektionen kommt, sind charakteristisch für das Coronavirus. Treten solche Häufungen vermehrt auf, ist das ein Anzeichen dafür, dass sich die Pandemie unter dem Radar wieder ausbreitet.

Zudem fallen die Super-Spreading-Ereignisse nur bei insgesamt niedrigen Infektionszahlen ins Gewicht. Springt die Reproduktionszahl in so einer Phase für wenige Tage über eins, sind die Folgen gering. Gibt es hingegen mehr als 5000 Neuinfektionen an einem Tag, wirkt sich ein hoher R-Wert gleich fatal in deutlich steigenden Fallzahlen aus.

Daher ist es wichtig, neben der Reproduktionszahl auch noch einige andere Kennzahlen im Blick zu behalten. Das hilft zu verstehen, warum die Reproduktionszahl angestiegen ist. Naheliegend ist, die täglichen Neuinfektionen in den einzelnen Landkreisen anzuschauen. Sie verraten, wo es zu Ausbrüchen gekommen ist. Wenn in einer Region viele mit dem Coronavirus infizierte Menschen auf der Intensivstation liegen oder versterben, ist das ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass das Virus schon länger in der Gegend kursiert. Kurzfristig hilft ein Blick auf die positive Testrate: Wenn viele Menschen auf Sars-CoV-2 getestet werden, aber nur sehr wenige tatsächlich infiziert sind, dürfte es insgesamt nur wenige Infizierte geben. Wenn bei den wenigen bekannten Fällen auch noch bekannt ist, bei wem sie sich angesteckt haben, stehen die Chancen gut, dass das Ausbruchsgeschehen vorerst weitestgehend unter Kontrolle ist.

In Gütersloh ist das aktuell nicht der Fall. Mehrere Neuinfektionen lassen sich nicht dem bekannten Cluster im Schlachtbetrieb von Tönnies zuordnen, weshalb über den Kreis zuletzt wieder Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen verhängt wurden - bis das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen die Beschränkungen vorläufig außer Vollzug setzte. Das Ziel: Die Reproduktionszahl senken und weitere Infektionen verhindern. Der R-Wert steht auf drei Säulen. Die Ausbreitung des Virus wird befördert, wenn Infizierte viele andere Menschen treffen, das Virus dabei effektiv übertragen und sehr lange infektiös sind.

Wie sich der R-Wert senken lässt

Das sind drei Stellen, an denen sich ansetzen lässt, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen. Zum einen sind da Kontaktbeschränkungen: Wer möglichst wenige Menschen trifft, kann auch kaum jemanden anstecken. Eine einfache Maßnahme mit großen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Mit deutlich weniger Einschränkungen verbunden sind Ansätze, die die Infektionswahrscheinlichkeit senken sollen: durch Hygiene, also regelmäßiges Händewaschen und richtiges Niesen. Durch Abstandhalten und Treffen im Freien statt in schlecht belüfteten Räumen. Und durch Masken.

Nicht ganz so einfach zu beeinflussen ist die Infektionsdauer. Es gilt, Verdachtsfälle frühzeitig zu erkennen und zu isolieren, bevor es zu weiteren Ansteckungen kommen kann. Dabei gibt es ein Problem. Fast die Hälfte der Ansteckungen findet statt, bevor ein Infizierter überhaupt Symptome entwickelt. Sie lassen sich nur vermeiden, wenn die Gesundheitsämter sehr schnell die Kontaktpersonen von Infizierten finden. Ein wichtiges Werkzeug, um die Pandemie mit möglichst hohem Tempo zu bekämpfen, ist die Corona-Warn-App. Mehr als 14 Millionen Mal wurde sie inzwischen heruntergeladen. Sie könnte damit entscheidend dazu beitragen, die verflixte Reproduktionszahl unter eins zu halten.

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