Corona-Impfung:Stiko-Chef Mertens wehrt sich gegen Kritik

Vaccinations Continue As Authorities Worry Over Delta Variant Spread

Erst mit Astra Zeneca impfen, dann mit Biontech: Nach Einschätzung der Ständigen Impfkommission schützt diese Kombination besonders gut gegen die Delta-Variante des Coronavirus.

(Foto: Jens Schlüter/Getty Images)

Hausärzte beklagen Chaos in den Praxen, seit sie nach Astra Zeneca mit Biontech oder Moderna impfen sollen. Aber ist daran die Ständige Impfkommission schuld? Der Vorsitzende weist die Vorwürfe zurück.

Von Werner Bartens

Thomas Mertens ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) gehört neben Lothar Wieler und Christian Drosten zu den prägenden Gesichtern der Pandemie. Alle drei waren Anfeindungen für ihre Einschätzungen ausgesetzt, aber Mertens wurde für Teile der Öffentlichkeit zum Watschenmann, vielleicht weil er auch in Zeiten größter Unsicherheit diese freundliche Gelassenheit ausstrahlte, die Hektiker schon mal nervös machen kann.

Jetzt hat sich Mertens geärgert, und zwar über die "unreflektierte Kritik" der Hausärzte, die ihm und der Stiko pauschal schlechte Kommunikation vorwarfen. Im Detail geht es um die vergangene Woche angekündigte Empfehlung der Stiko, nach einer Erstimpfung mit dem Vakzin von Astra Zeneca für die Zweitimpfung ein mRNA-Vakzin zu verwenden, also Impfstoff von Biontech oder Moderna. Der Immunschutz sei laut Stiko "deutlich überlegen", wenn mit einem Vektor- und einem mRNA-Impfstoff zwei verschiedene Präparate gegeben werden, als wenn beide Male Astra-Zeneca-Vakzin verabreicht würde.

Viele Patienten seien durch die neue Empfehlung verunsichert, sagen die Hausärzte

Die Hausärzte reagierten empört auf die "überraschende" Empfehlung. Patienten seien "verunsichert und erfragen, welchen Impfstoff sie bei der Zweitimpfung erhalten und wollen ihren Termin entsprechend vorziehen", beklagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. Der Mehraufwand sei enorm, allein in den kommenden Wochen stünden drei Millionen Zweitimpfungen mit dem Vakzin von Astra Zeneca in Praxen an, sekundierte Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Mangel an Impfstoff, überlastete Mitarbeiter - für das zu erwartende Chaos in den Praxen wurde schnell der Schuldige ausgemacht: die Stiko. Es habe an "klarer Kommunikation und der frühzeitigen Einbindung derer gefehlt, die letztlich die Empfehlungen umsetzen", so Weigeldt.

Thomas Mertens weiß zwar, dass ihn "der liebe Gott mit einem dicken Fell ausgestattet" habe, doch in diesem Fall sieht der Stiko-Chef seine Kommission unfair behandelt. "Offenbar wissen die wenigsten, wie eine Empfehlung zustande kommt", sagt Mertens. Überraschend sei da nichts, sondern dem sorgfältigen Abwägen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der stufenweisen Bewertung und Diskussion geschuldet. Um dies zu verdeutlichen, hat Mertens einen offenen Brief verfasst, der im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht werden soll und der SZ bereits vorliegt.

Demnach definiere die Stiko zunächst, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse für die jeweilige Empfehlung vorliegen sollten. Nach umfangreicher, systematischer Literaturrecherche und mathematischen Modellierungen wird das Ergebnis bewertet und diskutiert, Gleiches geschieht mit dem ersten Textentwurf, bis über den überarbeiteten Text unter den 18 Stiko-Mitgliedern abgestimmt wird. Dann geht der Entwurf einer neuen Empfehlung in das Stellungnahme-Verfahren, an dem Bundesländer, Gesundheitsministerium und Fachgesellschaften beteiligt sind. Spätestens eine Stunde, nachdem dieses vorgeschriebene Verfahren eingeleitet wurde, ist der Entwurf öffentlich; mögliche Änderungen können abgestimmt werden.

"Ich kann die entstandenen Probleme und die Mehrbelastung in den Praxen verstehen, aber durch welche bessere Kommunikation dies hätte vermieden werden können, ist offen", sagt Mertens. Schließlich habe die Stiko - wie bei anderen wichtigen Änderungen - selbst vorab informiert. Eine solche Vorabinformation könne nur öffentlich geschehen, denn sie würde nie "geheim" bleiben, sondern sofort breit diskutiert werden, ist Mertens überzeugt. Ärzte würden doch nicht glauben, dass sie nach einer Vorabinformation über eine neue Impfreihenfolge weiterhin nach der veralteten Empfehlung hätten impfen können und ihre Patienten dies akzeptiert hätten, ist Mertens überzeugt.

Der Frust der niedergelassenen Mediziner ist verständlich; Nerven liegen während der Pandemie überall blank. Für Haus- und Fachärzte, die erst mit Verzögerung in die Impfkampagne einbezogen wurden und wesentlich zur Steigerung der Impfquote beigetragen haben, bedeutet es erheblichen Mehraufwand, zu impfen. Der Piks in den Oberarm ist der kleinste Teil davon. Das Aufziehen der Spritze aus den winzigen Vials erfordert viel Zeit und Geduld. Die Aufklärung der Patienten ebenso, hinzu kommt die Nachbeobachtung. Die Dokumentation ist umfangreich, die vom Gesundheitsministerium angekündigte IT für den digitalen Impfnachweis funktionierte anfangs gar nicht - für Genesene, die nur eine Impfung bekommen, funktioniert sie immer noch nicht. Die 20 Euro, die Ärzte in ihrer Praxis für den Impfvorgang abrechnen dürfen, decken den Aufwand kaum - und wirken ungerecht angesichts der besseren Bezahlung der Mediziner in den Impfzentren und der 18 Euro, die Apotheker bis vor Kurzem nur für ein Impfzertifikat bekamen.

Für Ärzte ist zudem jede Woche aufs Neue ungewiss, wie viel Impfstoff sie in der Folgewoche erhalten. Die Planung, wer wann welchen Impfstoff gespritzt bekommt, bringt Praxismitarbeiter an ihre Grenzen; Patientenwünsche nach Terminen vor den Ferien kommen hinzu. Mit der Stiko-Empfehlung zur Kreuzimpfung mit Astra Zeneca und Biontech oder Moderna steigt der Aufwand erneut - wofür die Stiko allerdings wenig kann.

Zur SZ-Startseite
Corona-Impfung: Ampullen mit dem Impfstoff von Biontech und Astrazeneca

Corona-Impfung
:Was die Stiko-Empfehlung zu Astra Zeneca bedeutet

Wer schon eine Spritze Astra Zeneca erhalten hat, soll als zweite Dosis einen mRNA-Impfstoff bekommen. Aber wie wirksam ist die Impfung dann? Und was bedeutet das für diejenigen, die schon zweimal Astra bekommen haben? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: