Süddeutsche Zeitung

Pandemie:Die große Ruhe

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Während des Lockdowns lebten US-Amerikaner deutlich leiser. Die durchschnittliche Lärmbelastung sank zum Teil um mehr als drei Dezibel.

Von Julian Rodemann

Es dauerte im Frühjahr nicht lange, bis so mancher in den Corona-Beschränkungen die große Chance zur Besinnung, ja zum bewussten Verzicht erkannte. Autobahnen und Einkaufszentren leerten sich schließlich; statt in lauten Großraumbüros arbeiteten viele zu Hause. Blieb man bislang morgens meist im Berufsverkehr stecken oder quetschte sich in überfüllte U-Bahnen, so schlief man nun ein halbes Stündchen länger. Kein Hupen, keine Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig - das Leben, es wurde leiser. Ruhe kehrte ein. Stille. Ruhe. So jedenfalls nahmen es viele wahr.

Eine neue US-Studie zeigt jetzt, dass dieser Eindruck nicht trügt. Tatsächlich ging die individuelle Lärmbelastung zwischen Januar und April dieses Jahres in vier großen US-Bundesstaaten um durchschnittlich 2,6 Dezibel zurück, berichten Wissenschaftler von der Universität Michigan im Fachjournal Environmental Research Letters. Die Forscher um Lauren Smith und Richard Neitzel hatten Daten von knapp 6000 Computeruhren, sogenannten Smartwatches, aus den Staaten Florida, New York, Kalifornien und Texas ausgewertet.

Im Mittel sank die Lärmbelastung von durchschnittlich 73,2 auf 70,6 Dezibel. "Das ist eine sehr große Reduktion, sie könnte langfristig einen großen Effekt auf die allgemeine Gesundheit der Menschen haben", sagt Neitzel, der als Professor an der Universität Michigan zu Lärmbelastung und deren gesundheitlichen Folgen forscht. Ein dauerhaft hoher Lärmpegel erhöht nicht nur das Risiko eines Gehörverlusts, sondern kann auch Erkrankungen der Herzkranzgefäße begünstigen, von psychischen Folgen ganz zu schweigen.

Die Wissenschaftler verglichen die von den Uhren aufgezeichneten Tonspuren vor und nach Inkrafttreten bestimmter Maßnahmen wie Abstandsregeln in der Öffentlichkeit und Ausgangsbeschränkungen. In der Altersgruppe der unter 26-Jährigen war die Lärmreduktion mehr als doppelt so groß wie bei den über 56-Jährigen. Am leisesten erlebten die Kalifornier und die Einwohner des Bundesstaates New York im Vergleich den Lockdown. In New York war mit über drei Dezibel auch der Rückgang der Lärmbelastung am größten, in Florida war die Veränderung hingegen am geringsten.

Der Lärmpegel sank besonders an den Wochenenden. Beinahe alle Studienteilnehmer verbrachten an den Samstagen und Sonntagen weniger Zeit in einer Umgebung mit einem Lärmpegel von mehr als 75 Dezibel, was in etwa der Lautstärke einer Fahrradklingel entspricht. Die sonst starken Lärmunterschiede zwischen der Arbeitswoche und dem Wochenende wurden kleiner, sie verschwanden teilweise sogar komplett. "Die Alltagsroutine der Probanden wurde auf den Kopf gestellt", sagt Neitzel.

Es handelt sich zwar mit mehr als einer halben Million Tonaufnahmen um die bisher größte Studie zur individuellen Lärmbelastung, wie die Autoren schreiben, doch repräsentativ für die gesamte US-Bevölkerung sind die Ergebnisse nicht. Nur wer eine Smartwatch besitzt, konnte an der Untersuchung teilnehmen - und das schließt natürlich einige Bevölkerungsgruppen aus. Trotzdem sei diese Form der Lärmmessung wichtig, präzisere Daten zu individuellen Geräuschpegeln bekomme man nicht, so die Wissenschaftler.

Welche gesundheitlichen Folgen Lärm genau hat, können die Wissenschaftler anhand der Lockdown-Daten künftig besser untersuchen. Die Pandemie gleicht aus wissenschaftlicher Sicht einem großen Experiment, an dem etliche Fachrichtungen beteiligt sind. So haben Biologen bereits herausgefunden, dass Singvögel vom geringeren Verkehrslärm profitieren. Und Seismologen maßen in dieser Zeit den stärksten Rückgang der Erdvibrationen seit Beginn der Aufzeichnungen.

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