Thomas Reinelt ist ein leidenschaftlicher Sucher. Auf seinem Streifzug tritt er hüfthohe Brennnesseln zur Seite, weicht Brombeerhecken aus, die nach seiner Kleidung greifen und bahnt sich seinen Weg durch Holunder, der ihm bis zu den Ellbogen reicht. Auch die schweißtreibende Sonne, die seine weißen Haare unter der Mütze verkleben lässt, kann ihn nicht aufhalten. Seit 13 Jahren durchstreift der groß gewachsene Mann sein Gebiet mindestens zehn Mal im Jahr. Und wofür? Schmetterlinge.
Reinelt ist ein Bürgerwissenschaftler. In seiner Freizeit zählt und bestimmt er Schmetterlinge für das Tagfalter-Monitoring Deutschland - eines der am längsten laufenden Citizen-Science-Projekte. Für solche Programme engagieren Wissenschaftler freiwillige Helfer, die Daten sammeln oder auswerten. Aber lässt sich damit überhaupt echte Forschung betreiben?
Biologie:Das Insektensterben bedroht unsere Lebensgrundlagen
Nicht nur in Deutschland sterben die Insekten. Am Ende wird das auch die Menschen massiv treffen.
Die Teilnehmer sollten Insekten zählen. Manche meldeten aber Spinnen und Asseln
Gerade hat der Naturschutzbund Deutschland (NABU) die zweite Runde des Insektensommers beendet. Im ersten Durchlauf haben fast 6000 Menschen - von siebenjährigen Kindern über mehrköpfige Familien bis hin zu etlichen Senioren - Insekten gezählt. Jeder darf mitmachen. Eine eigens dafür entwickelte App soll den Freiwilligen dabei helfen, die 122 häufigsten Sechsbeiner zu identifizieren. Das ist auch nötig. "Manche wollten damit Spinnen oder Asseln bestimmen", sagt Daniela Franzisi, Leiterin des Projekts. "Aber das sind gar keine Insekten."
Andere Citizen-Science-Projekte geben ihren Helfern erst eine Einführung, bevor diese losziehen. Um zu testen, wie gut die Daten ihrer Bürgerwissenschaftler sind, vergleichen Forscher sie meist mit Daten, die professionelle Hilfskräfte unter denselben Bedingungen aufgenommen haben. Zahlreiche Studien haben gezeigt: Nach einer ordentlichen Einweisung unterscheiden sich die Daten kaum. Somit können auch Laien gute Daten liefern. Natürlich gibt es individuelle Unterschiede - manche Teilnehmer sind eben nicht so geschickt, geübt oder gewissenhaft. Diese gibt es aber auch unter den professionellen Helfern.
Ein Laie ist Reinelt lange nicht mehr, eher ein "Laienexperte". Auch ohne Biologiestudium kann er die meisten der heimischen 146 Falterarten bestimmen, die außerhalb der Alpen leben. Dafür hat er viel gelesen und jahrzehntelang geübt. Selbst den orangen Falter, der nur vorbeihuscht, kann er zuordnen. "Irgendwann erkennt man sie an der Art, wie sie fliegen", sagt Reinelt. Andere Arten, die sich nur durch einen Punkt auf den Flügeln unterscheiden, müssen kurz stillhalten.
Nach jeder Zählung gibt Reinelt die Daten online ein. Bevor sie in der Datenbank landen, müssen sie einen Kontrollpunkt passieren, die Plausibilitätsprüfung: Registriert das Programm ungewöhnliche Daten, überprüft sie ein Schmetterlingsexperte, der sich vor Ort auskennt. "Manchmal stellt sich heraus, dass jemand beim Eingeben der Zahlen nur verrutscht ist", erzählt Elisabeth Kühn, die Koordinatorin des Projekts. Bei rund 20 000 Meldungen im Jahr würden ein paar falsch bestimmte Schmetterlinge aber auch nicht ins Gewicht fallen. Citizen Science nutzt hier den Vorteil der Masse.
Die korrekte Artenbestimmung allein sagt aber noch lange nichts über die Qualität der Daten aus. Viele andere Faktoren können darauf Einfluss nehmen. Wie gut die Daten sind, und was die Forscher daraus machen, entscheidet letztlich über die Aussagekraft der Studie. Um das, was Hunderte Freiwillige zusammengetragen haben vergleichen zu können, ist vor allem eines wichtig: Alle müssen dasselbe machen. Für diese Standardisierung braucht es eine einfache, unmissverständliche Arbeitsanleitung.
Beim Tagfalter-Monitoring gehen die Freiwilligen immer wieder dieselben Wege - sogenannte Transekte - ab, die aus mehreren 50 Meter langen Abschnitten bestehen. Darin zählt Reinelt, so wie die anderen, nur die Schmetterlinge 2,5 Meter links und rechts vom Weg. Ein paar Meter weiter hat der Bauer einen Blühstreifen vor der Mahd verschont. Die knapp 20 Falter, die dort von Blüte zu Blüte fliegen, kann Reinelt nur bestaunen aber nicht mitzählen. Sie sind nur eine Randnotiz.
Doch egal wie standardisiert eine Methode ist: Jeder Mensch ist anders. Und so arbeitet auch jeder Mensch anders. Auf jedem Abschnitt sollen sich Reinelt und seine Kollegen fünf Minuten Zeit nehmen. "Ich weiß, dass ich eigentlich zu schnell durchgehe", gibt Reinelt zu. Er läuft seine 22 Abschnitte in seinem eigenen Tempo ab, will nicht ständig auf die Uhr gucken. Auch die Motivation von Bürgerwissenschaftlern unterscheidet sich. Manche geben schon nach kurzer Zeit frustriert auf, wenn sie kein Tier sehen. Dann zu melden, nichts entdeckt zu haben, ist fatal. Die Forscher können ja nicht wissen, ob der Bürgerwissenschaftler das Tier tatsächlich nicht gesehen oder nur nicht lange genug danach Ausschau gehalten hat. Negativergebnisse sind auch wichtig - das müssen die Teilnehmer aber erst einmal wissen.
Mit der Zeit werden Hobbyforscher auch besser darin, verschiedene Arten zu unterscheiden. Sie melden dann nicht nur, dass sie zehn Tagfalter der Familie der Weißlinge gesehen haben, sondern welche Arten es waren. Die Gesamtanzahl steigt dann zwar nicht, dafür aber die Anzahl gezählter Falter einer bestimmten Art.
Schließlich gibt es noch einige psychologische Faktoren, die eine Rolle spielen können, etwa eine verzerrte Wahrnehmung. Wir sehen das, was wir erwarten. In einem bekannten Internetvideo soll man beispielsweise Ballwechsel zwischen zwei Mannschaften zählen. Dabei nehmen die meisten den Gorilla nicht wahr, der im Hintergrund vorbeigeht. Doch auch wenn man weiß, wonach man Ausschau halten soll, ist die Aufmerksamkeit nicht immer gleich hoch. In einem Citizen-Science-Projekt, in dem die Teilnehmer invasive Pflanzen zählen, sind die Daten umso genauer, je mehr gesuchte Arten sich in einem Bereich befinden. Dort wo nicht so viel los ist, sehen sie tendenziell auch weniger - noch weniger, als ohnehin schon da ist.
Ohne die Bürgerwissenschaftler wären viele Untersuchungen überhaupt nicht möglich
Wegen all dieser individuellen Unterschiede ist es wichtig, die einzelnen Daten nicht zu einem Datenberg zusammenzufassen. "Unsere Statistiker kriegen dann ne Krise", erzählt Kühn. Niemand weiß dann noch, von wem, wann und wo die einzelnen Daten herkommen und unter welchen Bedingungen sie aufgenommen wurden. Gute Statistik ist nur möglich, wenn diese Faktoren mitberücksichtigt werden. Dann kann Citizen Science aussagekräftige und wertvolle Ergebnisse liefern.
Ergebnisse, die ohne die Helfer gar nicht zustande kämen. Die Studien wären zu teuer oder aufwendig. "Beim Tagfalter-Monitoring wollten wir viele Daten aus verschiedenen Gebieten über lange Zeit", erläutert Kühn. "Ohne unsere Ehrenamtler wäre das gar nicht möglich." Der Großteil der europäischen Monitoring-Programme ist auf sie angewiesen: Etwa 86 Prozent der Teilnehmer sind Freiwillige.
Citizen Science kann aber noch mehr. Die Teilnehmer lernen Neues und werden für Probleme wie den Artenschwund sensibilisiert. "Mit der App für den Insektensommer haben wir versucht, die Leute nach draußen zu locken", sagt Franzisi, "damit sie mal schauen, was da mit ihnen auf dem Planeten wohnt." Studien zeigen, dass man viel eher gewillt ist, etwas zu schützen, was man selbst in natura bewundern konnte. Citizen Science kann somit auch Natur- und Artenschutz fördern. Zum Beispiel hat die aktive Beteiligung von Farmern in so einem Projekt in Namibia nicht nur bewirkt, dass sie ihre Herden besser vor Geparden schützen konnten. Sie schießen sie auch seltener ab.
Auf dem Weg zum Auto sieht Reinelt einen seiner Lieblingsfalter im Baum. Seine Flügel schimmern in der Sonne blau. "Hach, der kleine Schillerfalter", sagt er ungläubig. Noch nie hat er ihn auf seinem Transekt gesehen. Vielleicht hat er nächste Woche mehr Glück.