Gesundheit:In Würde krank

Gesundheit: Vor zwölf Jahren bekam die Autorin die Diagnose Rheuma - und übt sich seither darin, mit ihrer Krankheit zu leben.

Vor zwölf Jahren bekam die Autorin die Diagnose Rheuma - und übt sich seither darin, mit ihrer Krankheit zu leben.

(Foto: ANNA AICHER)

Unsere Autorin leidet an Rheuma, von Jahr zu Jahr muss sie sich von neuen Dingen verabschieden: dem Wandern, der Pflege ihres Pferdes, selbst den gusseisernen Lieblingsbräter kriegt sie nicht mehr gelupft. Während das alte Leben zerrinnt, fragt sie sich: Kann man das, die eigene Krankheit akzeptieren lernen?

Von Katrin Blawat

Diesmal würde mich der Rollstuhl hoffentlich nicht enttäuschen. "Wetten, dass ich schneller bin?", hatte ich die Mitpatientin in der Rehaklinik gefragt. Beide saßen wir in so einem elektrisch betriebenen Gefährt. Doch mein Rollstuhl war das neuere Modell, und nur er hatte einen Rennhasen als Symbol für die höchste Geschwindigkeitsstufe (und eine Schildkröte für die niedrigste). Gute Voraussetzungen also. Ganz sicher war ich mir trotzdem nicht. Ein paar Tage zuvor hatte ich den Knopf mit der Hupe ausprobiert und war in Erwartung eines durchdringenden Signals hinaus auf den Parkplatz gefahren. Doch dann fiepte es nur, als wäre eine Maus unter die Räder geraten.

Der Rennhase hielt sein Versprechen, er fuhr mehrere Sekunden Vorsprung heraus. Ich triumphierte, ließ den Rollstuhl fiepen und schaltete wieder auf Schildkröte. Zurück in der Klinik, hielt die Hochstimmung an. "Siehste, Adorno", dachte ich (und war mir bewusst darüber, ihn nicht verstanden zu haben), "und ob es das gibt: ein richtiges Leben im falschen."

Falsch kann sich ein Leben mit schwerer, chronischer Krankheit anfühlen. Wenn klar wird, dass die kommenden Jahre wohl keine umfassende Gesundung bringen werden. In meinem Fall liegt das an einer rheumatischen Erkrankung, Spondylitis ankylosans (auf deutsch: verknöchernde Wirbelsäulenentzündung), besser bekannt als Morbus Bechterew. Dabei greift das Immunsystem Strukturen des eigenen Körpers an. In der Folge entzünden sich die Wirbelgelenke, und als Gegenwehr bildet der Körper knöcherne Brücken zwischen einzelnen Segmenten der Wirbelsäule. Das tut weh und schränkt die Beweglichkeit zunehmend ein. Auch andere Gelenke und Sehnen können sich entzünden. Die Entzündungen schwächen den gesamten Körper, sodass sich Morbus Bechterew nicht nur an den betroffenen Stellen äußert, sondern den gesamten Menschen in Mitleidenschaft ziehen kann.

Bei mir hat sich die Krankheit auch in den Grundgelenken der großen Zehen breitgemacht. Am linken Fuß war das angefressene Gelenk nicht mehr zu retten gewesen und deshalb versteift worden. Wenn die Folgen der OP in ein paar Wochen verheilt sein würden, würde ich den Fuß zwar nicht mehr normal abrollen, aber dennoch mit weniger Schmerzen gehen können, so die Hoffnung.

Wenn sich abzeichnet, dass viele körperlichen Einschränkungen bleiben oder sogar zunehmen werden, braucht es, damit sich überhaupt noch etwas richtig anfühlt, die Einsicht: Es gibt Wichtigeres im Leben als Gesundheit. Natürlich ist Wohlbefinden leichter erreichbar, wenn keine Krankheit piesackt. Und bestimmt existiert eine Grenze, von der an vor lauter Leid kein Platz für anderes bleibt. Dennoch: dass Gesundheit das Wichtigste im Leben sei - diese Einstellung können sich vor allem Gesunde leisten. Wer dauerhaft krank ist, der fragt sich hingegen schnell: Und was ist mit mir? Ist dann in meinem Fall ohnehin alles egal?

Sicher nicht. Wenn es unvermeidlich wird, können auch andere Werte als Gesundheit oben auf der Rangliste stehen. Selbst wenn Krankheit das Leben verfälscht, lässt es sich immer noch zum Guten und Richtigen gestalten. Ja, das sind die Worte eines Fuchses, dem die süßen Trauben zu hoch hängen und der sie deshalb zu etwas Verzichtbarem erklärt. Na und? Manchmal braucht es einen Fuchs, der ermutigt, wenn "Gesundheit" ein zu großer Begriff für das eigene Leben ist.

Es geht darum, mit den gegebenen Konstellationen umgehen statt einen Plan zu haben

Was kann die Alternative sein? Die Antwort ist schnell gesagt. Doch sie umzusetzen, dürfte eine der schwierigsten Aufgaben sein, denen ein Mensch sich stellen kann: Klarzukommen mit dem, was ist - und trotz allem in möglichst vielen Momenten das Gute, Schöne, Komische zu erkennen. "Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muss darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt", schreibt Rainer Maria Rilke in einem seiner "Briefe an einen jungen Dichter".

Mit 28 Jahren wurde mir klar, dass etwas nicht stimmt. Vor Rückenweh konnte ich nur noch im knien schlafen und mich morgens erst unter der Dusche umziehen, weil ich mich ohne das heiße Wasser kaum rühren konnte. Ich bekam Physiotherapie und Medikamente. Sie sollten das übereifrige Immunsystem und dadurch die Entzündungen eindämmen. Damit ging es mir zunächst recht gut. Dass die Krankheit nicht heilbar ist, hatte mich anfangs nicht besonders gestört, hieß es doch, sie sei meist gut zu behandeln.

Das ist so lange tröstlich, wie man zu dieser Mehrheit gehört. Heute, zwölf Jahre nach der Diagnose, habe ich zahlreiche Therapien probiert und trotzdem zunehmende Beschwerden in Rücken, Schultern und Knien, Händen und Füßen. An guten Tagen fühlen sich diese Körperteile nur steif an und sind weniger belastbar. An schlechten kann ich sie kaum benutzen. Dazu kommen eine tiefe Erschöpfung, außerdem Nebenwirkungen der starken Medikamente.

Grund genug, nach einem Weg zu suchen, wie es mir auch mit angeschlagener Gesundheit gut gehen kann. Orientierung bietet das verstorbene Autorenpaar Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme. Es komme darauf an, dass "die Behinderungen nicht als Einschränkungen des Lebens selbst verstanden werden, sondern als Bedingungen, unter denen das Leben Gestalt annimmt", schreiben sie in ihrem Buch "Mit Krankheit leben". Die Aufgabe bestehe weniger darin, konkrete Lebensziele zu formulieren, als flexibel zu reagieren: "Meist ist es wichtiger, mit gegebenen Konstellationen umgehen zu können, als einen Plan zu haben."

Gefordert werden also eine umfassende Akzeptanz und Offenheit, die auch Platz für unschöne Wendungen lässt. Sonst noch was? Wer diese Haltung perfektioniert, der kann sich auch gleich erleuchtet nennen. Für den Normalsterblichen hingegen klingt das erst einmal unerreichbar. Egal. Denn es hilft schon, sich auf den Weg zu diesem Ziel zu machen. Das ist mühsam, hat aber einen großen Vorteil: Hinter dem abstrakten Begriff der Akzeptanz verbirgt sich eine Haltung, die sich üben lässt. Gesundheit dagegen ist in vielen Fällen ein Geschenk, das man bekommt und behalten darf - oder auch nicht.

Die Aufgabe lautete also: akzeptieren üben. Wüten und Heulen über das Schicksal schließt das keineswegs aus. Womöglich braucht es das sogar. Nur hilft es, wenn irgendwann die Einsicht folgt: Ich würde die Situation gern ändern, kann es aber nicht. Natürlich würde ich gern selbst mein Pferd, einen Isländerwallach, versorgen. Traurig, dass das nicht geht. Doch mein Hadern hilft Hölmi nicht. Er will Futter, einen sauberen Stall und Bewegung. Also braucht es andere, die sich kümmern. Hölmi ist jetzt 30 und in diesem Greisenalter in einem deutlich besseren Zustand als ich mit umgerechnet nicht einmal halb so vielen Lebensjahren.

Es braucht innerlich stabilisierende Kraft, um trotzdem ein gutes Leben zu führen

Egal ob krank oder gesund, kein Mensch sollte seine Lebenszeit in einer passiven Jammerhaltung verplempern. Eine Liedzeile von Reinhard Mey, als Kind oft gehört im Elternhaus und jetzt als sanfte Mahnung wieder in die Erinnerung gerutscht: "Was da vergeht, das ist mein Leben, vielleicht meine beste Zeit." Mit deutlich mehr Imperativ in der Stimme hat sich der österreichische Psychiater Viktor Frankl dem Thema angenommen. Er schreibt: "Dort, wo ich angesichts eines schweren Schicksals ihm nicht mehr mit einem Tun, also nicht mehr mit einer Handlung begegnen kann, dort muss ich ihm begegnen in der rechten Haltung."

Derart würdevoll krank zu sein, ist eine Kunst. Das braucht ebenso Zeit, wie sie auch Muskeln zum Wachsen benötigen. Man denke nur an die Tiefenmuskulatur, die den Rumpf stabilisiert. Von außen sieht man sie nicht, und ihr Training kann brutal anstrengend sein. Doch ist sie erst einmal gestärkt, geht man aufrechter durchs Leben. Eine solch innerlich stabilisierende Kraft braucht auch, wer trotz mangelnder Gesundheit ein gutes Leben führen will.

Nur fällt das Training dieser geistigen Tiefenmuskulatur nicht leicht. Widrigkeiten lauern auf dem Weg, zum Beispiel Schmerzen. Manche von ihnen laufen im Alltag einfach nebenher wie ein Schatten. Ich werde sie nicht los, aber wir kennen uns, und sie stören nicht besonders. Mucken sie doch einmal auf, lassen sie sich mit Psychotricks wieder in ihre Grenzen weisen, etwa indem ich mir das Lachen meiner Patenkinder vorstelle oder aufzähle, was trotz allem gut ist gerade. Klingt abgedroschen, hilft aber. Manchmal jedoch wachsen sich Schmerzen vom Mitläufer zum Anführer aus. Dann bestimmen sie meinen Takt, lasten auf mir wie eine Decke aus Blei. Jede Bewegung, jeden Gedanken machen sie unendlich mühsam. Meine Welt schrumpft. Meist merke ich erst, wenn sich diese schwere Decke wieder hebt, wie schlimm es vorher gewesen ist.

In solchen Phasen stehe ich verloren ganz am Ende einer Wippe, in deren Mitte ich die meiste Zeit zu balancieren versuche. Auf der einen Seite die Welt der Gesunden, mit allen Freuden, Banalitäten, Aufgaben und Widrigkeiten, die jedes Leben beinhaltet. Auf der anderen Seite die Welt der Kranken, die insgesamt nicht unbedingt dunkler ist, sehr anders. In beiden Welten gleichermaßen beheimatet zu sein, immer wieder das Gleichgewicht zu erreichen und sich flexibel dort zu verorten, wo es der aktuelle Zustand verlangt: Das ist Lebenskunst. Ein Ziel, das ich nie ganz erreichen werde.

Verständlich, wenn dann Selbstmitleid als Lösung erscheint. Ist es aber nicht. Selbstmitleid ist eine billige Droge, und wie alle Drogen erleichtert sie zunächst, macht aber anschließend alles nur noch schwieriger. Das ist vor allem dann fatal, wenn jene Neugestaltungen anstehen, die eine chronische Krankheit oft erfordert.

Jede notgedrungene Veränderung von Liebgewonnenem empfinde ich zunächst als kleinen Weltuntergang. Wandern und Reiten kann ich seit Jahren nicht mehr. Das geliebte sportliche Fahrrad musste ich durch ein E-Bike ersetzen. Ich musste mich ans Schreiben mit Spracherkennung gewöhnen, weil Tippen zu weh tut. Den gusseisernen Bräter, das letzte Geschenk meiner verstorbenen Mutter, kann ich seit Langem nicht mal mehr aus dem Schrank heben. Ich wüte und heule, als hinge meine Lebensqualität von einem Fahrrad und einem Kochtopf ab.

Das einfachste ist die Gewöhnung

Und das tut sie in diesem Moment auch. Schließlich sind es lauter erzwungene Abschiede, die betrauert sein wollen. Es ist stets die gleiche Choreographie: Erst kommt das Drama, kurz darauf die Gewöhnung und dann Begeisterung für die Neuerung, die das Leben leichter macht.

Was ich von Fahrrad und Küchenutensilien gelernt habe: So wie manches es erschwert, sich ein richtiges Leben im falschen einzurichten, so hilft auch vieles auf diesem Weg. Das einfachste ist die Gewöhnung. Nicht umsonst gilt der Mensch als das anpassungsfähigste Wesen überhaupt. "Gut" geht es mir jetzt, wenn Schmerzen, Steifheit und Erschöpfung nicht stärker sind als üblich.

Doch vor allem braucht es die richtigen Menschen, um einer Krankheit wenigstens einen Teil ihres Schreckens zu nehmen.

Das sind Freunde, in deren Mitte ich in Ruhe krank sein kann. Die meine Wohnung putzen und kleingeschnittenen Kürbis bringen, weil es kein besseres Seelenessen gibt als Kürbissuppe und kein Gemüse, das Rheuma-geplagte Hände schlechter verarbeiten können. Freunde, denen ich mich zumuten darf, wenn ich vor lauter Seelenschwärze kaum einen Ton herausbringe. Familie und Freunde, die da sind, auch wenn sie Hunderte Kilometer entfernt wohnen. Eine Psychotherapeutin, deren feiner Humor das Schwere leichter macht. Ärzte, die mich sehen und deren Worte auch dann helfen, wenn sich medizinisch nicht viel tut.

Mit ihrer aller Unterstützung beginne ich eine Idee davon zu entwickeln, was wichtiger sein könnte als unbedingte Gesundheit. Eine Tagebuch-Notiz zeugt von zarten Fortschritten. "Glück ist: wenn im Café noch ein Tisch frei ist. Hilfe zu erhalten und helfen zu können. Wenn Schmerzen verschwinden. Kein Strafzettel trotz Halteverbot."

Cappuccino, Schmerzen und Parkplatzsorgen, vermutlich sieht so die Balance zwischen gesunder und kranker Welt aus. Und immerhin verdanke ich allein Letzterer meine Rennhasen-Erlebnisse. Der Rollstuhl ist lange zurückgegeben, spazieren gehen aber weiterhin kaum möglich. Jetzt steht für längere Ausflüge ein anderes Modell bereit. Ohne Hupe und Motor, doch Wettrennen lassen sich mit ihm auch fahren. Und Siege erringen sowieso.

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