Süddeutsche Zeitung

Chinesische Heilkunde:"Die Leber überfällt die Lunge"

Der Berliner Medizinhistoriker Paul Unschuld hat gemeinsam mit zwei Kollegen 23 Jahre lang die 88.000 Schriftzeichen einer antiken chinesischen Textsammlung übersetzt - und ist darin auf Geschichten von erbosten Geistern und brachialen Therapien gestoßen.

Katrin Blawat

23 Jahre lang hat der Berliner Medizinhistoriker Paul Unschuld, 68, mit zwei Kollegen die 88.000 Schriftzeichen einer antiken chinesischen Textsammlung ins Englische übersetzt. Bislang gab es im Westen keine wissenschaftlich fundierte Version des Werkes namens "Huang Di Nei Jing Su Wen", im Westen oft "Klassiker des Gelben Kaisers" genannt. Es gilt als älteste Textsammlung der chinesischen Medizin, die sich erstmals auf Naturgesetze bezieht. Doch den Glauben an Geister und Dämonen konnte auch die neue Denkweise nicht vertreiben.

SZ: Warum haben Sie mehr als zwei Jahrzehnte darauf verwendet, ausgerechnet dieses Buch zu übersetzen?

Unschuld: Wichtig war uns, dass mit unserer Übersetzung erstmals auch Forscher ohne Chinesischkenntnisse zum einen die Ursprünge der griechischen und der chinesischen Medizin vergleichen können, zum anderen die heutige und die antike Version der chinesischen Medizin. Der von uns übersetzte Text spiegelt einen grundlegenden Wandel in der Denkweise im antiken China wider. Im 2. Jahrhundert vor Christus begann dort die gleiche Entwicklung wie 400 Jahre zuvor in Griechenland: Die Menschen erkannten Naturgesetze, die unabhängig von Zeit und Raum wirken.

SZ: Von wem fühlten sich die Menschen bis dahin bestimmt?

Unschuld: Von Göttern, Geistern und Dämonen, die Krankheiten schicken. Egal ob Durchfall oder Halsschmerzen, alles wird von unsichtbaren Wesen verursacht. Gegen sie muss man sich mit Hilfe von mächtigen Geistern wie Sonne, Mond und Sternen wappnen.

SZ: Das klingt sehr nach der im Westen beliebten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Ist sie tatsächlich so sanft, wie ihre Anhänger behaupten?

Unschuld: Die chinesische Medizin ist nicht sanfter als jede andere. Sie kann sogar recht gewaltsam sein. Immer ist von Krieg im Körper die Rede, zum Beispiel überfällt die Leber die Lunge. Der Arzt ist der General und die Arzneidrogen sind die Soldaten. Die meisten Übersetzungen für Leser im Westen gaukeln ein friedliches Bild vor.

SZ: Was ist mit "ganzheitlich" gemeint, dem zweiten Schlagwort, das bei TCM unweigerlich ins Spiel kommt?

Unschuld: Die chinesische Medizin ist viel weniger ganzheitlich als die westliche. Wie kann eine Medizin ganzheitlich sein, die zum Beispiel weder Chirurgie noch Epidemiologie kennt? Hinzu kommt, dass die chinesische Medizin nie das soziale Element einbezogen hat, das es in Europa seit 200 Jahren gibt. In der chinesischen Medizin ist der Patient stets selbst an allem schuld - meist, weil er seine Emotionen nicht im Griff hat.

SZ: Ist der Glaube an Geister und Dämonen in China noch aktuell?

Unschuld: Auch heute lebt ein Großteil der Chinesen in dem Bewusstsein, dass ihnen die Ahnen Krankheit als Strafe für Fehlverhalten schicken. Während der Sars-Epidemie vor einigen Jahren gab es Versuche, die bösen Seuchendämonen mit Feuerkrachern und Essigdämpfen zu verjagen.

SZ: Hilft das von Ihnen übersetzte Werk mit Therapie-Ratschlägen?

Unschuld: Es ist nur in wenigen Teilen als konkrete Handlungsanleitung zu verstehen. Die 79 Kapitel setzen sich zusammen aus mehreren hundert anonymen Einzelschriften. Darunter sind grundsätzliche Überlegungen, etwa darüber, warum die Erdkugel im Universum schwebt. Es wird aber auch die Frage diskutiert, warum das Fieber bei Malaria manchmal alle zwei, manchmal alle drei oder vier Tage auftritt.

SZ: Das klingt ziemlich modern.

Unschuld: Ja, aber es handelt sich um ehemals gesonderte Bruchstücke. In Kapitel 35 beschreibt der Autor Malaria als Krankheit, die den ganzen Körper befällt. Ein Kapitel später heißt es, jedes Organ habe seine Malaria. Also gab es Herz-Malaria und Nieren-Malaria. Die Zeit des Aufbruchs in ein neues Denken war faszinierend vielfältig.

SZ: Gibt es eine Lieblingstextstelle?

Unschuld: Besonders gern zitiere ich: "Sich entsprechend den Gesetzen zu verhalten, das ist Gehorsam. Wer sich gegen die Gesetze stellt, der begeht Opposition. Opposition bedingt Wandel. Wandel bedingt Krankheit."

SZ: Das klingt nach Politik.

Unschuld: Der Leser sollte glauben, der eigene Körper sei auf die gleiche Weise organisiert wie ein Staat. In ihm gibt es Gouverneurspaläste, und diese entsprechen den Organen im menschlichen Körper. In den Palästen sitzen Gouverneure, die über Untergebene herrschen. Die Untergebenen der Nieren beispielsweise sind die Knochen und das Mark.

SZ: Wie kam es zu diesen Analogien?

Unschuld: Sie waren unvermeidbar. Vorgänge innerhalb des Körpers lassen sich nicht beschreiben, ohne auf Bilder aus dem Alltag zurückzugreifen. China war vor 2000 Jahren davon geprägt, dass eine Handvoll ehemals konkurrierender Reiche unter einer gemeinsamen Regierung vereint wurde. So entstand die Metapher von recht eigenständigen Organen, die gemeinsam einem Körper unterstehen. Es gab nur ein Schriftzeichen für die Begriffe "regieren" und "heilen".

SZ: Verstanden auch die Menschen auf dem Land die politische Sprache?

Unschuld: Nein, die Texte spiegeln die Gedanken von nur etwa drei Prozent der damaligen Bevölkerung wider. Der Großteil hat weiter an Dämonen und erboste Ahnen geglaubt. Zurzeit übersetze ich Handschriften aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Sie zeigen, welche medizinischen Praktiken im Volk verbreitet waren.

SZ: Von wem stammen die Notizen?

Unschuld: Von Wanderheilern, Zauberern, Apothekern, Familien - aus dem wahren Leben. In diesen Manuskripten finden wir Dinge, die in keiner offiziellen Schrift erwähnt sind. Das ist zum Teil sehr unterhaltsam.

SZ: Geben Sie uns ein Beispiel?

Unschuld: Da ist zum Beispiel von 60 Dämonen die Rede, von denen uns jeder an einem anderen Tag belästigt. Um sie zu besiegen, müssen wir den Namen des jeweiligen Tages-Dämonen rufen und den Stuhl verrücken, auf dem er sitzt, oder das Loch in der Wand stopfen, durch das er gekommen ist.

SZ: Können Sie aus den Handschriften auf den Alltag der Menschen schließen?

Unschuld: Von manchen Gebräuchen habe ich dort zum ersten Mal gelesen. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts - und vielleicht auch heute noch - zogen Opernsänger über das Land, die pharmazeutisch-didaktische Libretti sangen. In zwei Stunden stellten sie 500 Arzneien als Persönlichkeiten dar. Die Stücke waren unglaublich obszön.

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Quelle:
SZ vom 27.10.2011/mcs
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