Süddeutsche Zeitung

Wissenschaftspolitik:Wie China mit Forschung seine Macht ausbaut

  • Was die Zahl der Publikationen angeht, liegt China inzwischen an der Weltspitze der Wissenschaft.
  • Die Forschungsziele sind jedoch eng mit der politischen Agenda der Führung in Peking verknüpft.
  • Zuweilen geht dieser Ansatz katastrophal schief.

Von Christoph Giesen, Peking

Als Anfang des Jahres die Raumsonde Chang'e 4 im Von-Kármán-Krater aufsetzte, vibrierte kurz drauf Jiao Weixins Telefon in Peking. Die alten Kollegen schrieben per SMS, dass die Mission ein voller Erfolg gewesen sei. Als erster Nation ist es China gelungen, auf der Rückseite des Monds zu landen - ein äußerst schwieriges Manöver, die Gegend liegt nämlich im Funkschatten der Erde. Jiao schaltete den Fernseher ein, die Nachrichtensendungen berichteten bereits von der Landung. Wenig später konnte er sich selbst sehen, ein Sender hatte ihn am Tag zuvor interviewt, als Experten: Jiao Weixin, Professor an der Peking-Universität und Pionier der chinesischen Raumfahrt, so wurde er vorgestellt.

Vor 50 Jahren war daran nicht einmal zu denken: Dass Neil Armstrong 1969 als erster Mensch den Mond betreten hatte, erfuhr Jiao erst Monate später - durch ein Unglück. Er hatte gerade sein Studium der Geophysik beendet und war als Lehrling in einer Brigade untergekommen, die in Nanjing, während der Hochzeit der Kulturrevolution, Radaranlagen baute. Im Unterschied zu vielen seiner Kommilitonen ging es ihm relativ gut, er wurde nicht aufs Land verbannt, musste nicht schwere Feldarbeit leisten.

China publiziert mehr wissenschaftliche Aufsätze als jedes andere Land

Es war Mitte April 1970 als der Leiter der Einheit eine Sitzung einberief und erzählte, dass Beamte aus Peking sich gemeldet hätten. Die US-Regierung habe um Mithilfe gebeten, bei einer Mondmission sei es zu einen Zwischenfall gekommen, es sei möglich, dass eine amerikanische Raumkapsel in China notlanden müsse. "Es ging um Apollo 13. Den Namen hatten wir noch nie gehört. Genauso wenig wussten wir, dass Flüge zum Mond überhaupt möglich waren." Dieser Tag, sagt Jiao, habe sein Leben verändert. Seitdem widmet er sich der Raumfahrt.

1991 schlug die Chinesische Akademie der Wissenschaften eine eigene Monderkundungsmissionen vor, 2003 flog der erste Chinese ins All, 2007 umkreiste die Sonde Chang'e-1 den Erdtrabanten. 2022 soll eine eigene Raumstation einsatzbereit sein. Zwei Jahre bevor die Internationale Raumstation ISS voraussichtlich ihren Betrieb einstellt. An der ISS war chinesischen Forschern vom US-Kongress aus Furcht vor Spionage die Arbeit noch verwehrt worden. Schon bald könnten Europäer und Amerikaner in Peking anfragen, ob sie mitforschen dürfen.

Innerhalb weniger Dekaden ist es China gelungen, vom Außenseiter in der Wissenschaft zur Forschungsnation aufzusteigen, und dass nicht nur in der Raumfahrt. In fast allen naturwissenschaftlichen Disziplinen, sind chinesische Forscher inzwischen auf Augenhöhe. Von 2000 bis 2016 haben sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Volksrepublik um den Faktor zehn erhöht und der Ehrgeiz, dies weiter zu steigern, ist ungebrochen. Wissenschaftler aus keinem anderen Land veröffentlichen inzwischen mehr Aufsätze als aus China, wie eine Auswertung von 17,2 Millionen Fachartikeln, die zwischen 2013 und 2018 publiziert wurden, zeigt. In 23 von 30 Disziplinen lagen chinesische Forscher vorne - zumindest quantitativ.

Eng verknüpft sind die chinesischen Forschungsziele mit der industriepolitischen Agenda der Führung in Peking. 2013 stellte eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern dem Staatsrat eine Untersuchung vor. "Strategiestudie über das verarbeitende Gewerbe in China. Die Transformation von groß zu stark", lautete der Titel. Einer der Autoren war Liu Baicheng, einer der angesehensten Ingenieure des Landes. 1978 gehörte er der aller ersten Delegation chinesischer Wissenschaftler an, die in die Vereinigten Staaten geschickt wurde. Knapp drei Jahre studierte er an der University of Wisconsin und am MIT. Frau und Kind lebten weiter in Peking, nur per Brief hielt er Kontakt. 1981 kehrte er heim und wurde dann zu einem der Gründungsväter der chinesischen Ingenieurwissenschaften.

Anfang März 2015 erfuhr die Öffentlichkeit davon, was sich Liu Baicheng und seine Kollegen überlegt hatten. "Made in China 2025", nannte Premierminister Li Keqiang in seiner der Auftaktrede zum alljährlichen Volkskongress das Konzept. Vor vier Jahren konnte kaum einer etwas damit anfangen. Heute ist klar, es ist die ehrgeizigste industriepolitische Blaupause der Welt. In zehn Branchen sollen Unternehmen aus der Volksrepublik zur Weltspitze gehören:Unter anderem in der Elektromobilität, der digitalisierten Produktion, der Pharmaindustrie, der Medizintechnik und der Chip-Fertigung. Entwicklungsbanken und extra eingerichtete Fonds versorgen Firmen der ausgewählten Branchen mit günstigen Krediten. Hunderte Milliarden stehen bereit. Auch die Universitäten forschen im Auftrag des Staates, um Drittmittel muss sich niemand sorgen.

Viele der Wissenschaftler arbeiten nicht ausschließlich an ihren eigenen Projekten, sie beraten auch die Regierung. "Es ist eine soziale Dienstleistung", nennt ein Professor aus Peking das. Etwa 20 Prozent seiner Arbeitszeit steckt er darein, in Ausschüssen zu sitzen und sein Fachwissen an Ministerien weiterzugeben. "Daraus wird dann die langfristige Planung entwickelt." Die dann Top-Down umgesetzt wird - sogar von ganz oben.

KI-Wettrüsten zwischen China und den USA

Als der mächtige Staats- und Parteichef Xi Jinping (wie seine Vorgänger auch ein Naturwissenschaftler) seine Neujahrsansprache 2018 hielt, saß er wie immer vor einem Bücherregal. Bände von Karl Marx standen dort aufgereiht, auch Ernest Hemingways "Der alte Mann und das Meer". Neu waren in Xis Rücken jedoch zwei Standardwerke zur Künstlichen Intelligenz (KI). "Augmented: Life in the Smart Lane" und "The Master Algorithm: How the Quest for the Ultimate Learning Machine Will Remake Our World". Ein sehr deutliches Signal, wohin die Führung steuern möchte.

Ein KI-Wettrüsten zwischen China und den Vereinigten Staaten ist im vollem Gange. 2020, glauben Fachleute, könnte die Volksrepublik bereits gleichgezogen haben. 2030 sollen chinesische Unternehmen die dominierenden Spieler auf dem Weltmarkt sein, so der Plan der Regierung. 150 Milliarden Dollar soll dann die Branche in China jährlich umsetzen. "Noch sind wir nicht so weit", sagt Zhang Bo, vom Institut für Informatik und Technologie an der Tsinghua-Universität in Peking. "Bei der Anwendung, etwa der Sprach- oder Gesichtserkennun,g sind wir in China schon gut aufgestellt. Es mangelt jedoch an der Grundlagenforschung." Die wichtigsten Auszeichnungen im Fach hätten fast ausschließlich Amerikaner sowie ein Kanadier erhalten. "Ich empfehle meinen Studenten daher ausdrücklich, ein paar Semester in den USA zu verbringen", sagt Zhang.

Zu wenig Grundlagenforschung, genau das ist die Schwäche des Top-Down-Modells. Die Chance zu scheitern, wird oft nicht eingepreist. Die Folge: "Etwa 70 Prozent der Studenten wählen populäre Themen", sagt KI-Forscher Zhang Bo. "Die Durchbrüche erzielt man aber meistens in den weniger angesagten Bereichen, den Nischen."

Ausländische Experten wollen nicht in die arme Provinz

Manchmal geht Pekings Top-Down-Ansatz auch völlig schief. In der bitterarmen Provinz Guizhou, die für ihre malerischen Karstberge bekannt ist, ließ die Regierung das größte Radioteleskop der Welt bauen, es verfügt über einen Hauptspiegel mit 520 Meter Durchmesser. Technisch funktioniert die Anlage einwandfrei, es fehlt jedoch an Fachleuten, die damit umgehen können, und ausländische Spezialisten für das abgelegene Guizhou zu begeistern, schlug seit der Eröffnung 2016 fehl.

Dass Internationalisierung notwendig ist, hat man in Peking im Prinzip verstanden. Bereits 2008 führte die Regierung das sogenannte Tausend-Talente-Programm ein, mit dem Forscher in die Volksrepublik gelockt werden sollen. Es steht jedem offen, de facto werden aber fast ausschließlich chinesische Absolventen und Doktoranden gefördert, die aus Europa und den USA zurückkehren. In China nennt man diese Heimkehrer "Meeresschildkröten". Wie die Tiere, die immer nach Hause schwimmen, um am selben Strand ihre Eier abzulegen. Zu Hause dürfen sich die Wissenschaftler über üppige Forschungsbudgets freuen, doch es gibt auch eine Kehrseite.

Für eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie der University of California, Santa Barbara, wurden 731 chinesische Wissenschaftler befragt. Das Ergebnis: Der Druck an chinesischen Universitäten ist gewaltig. "Leute erfinden oder plagiieren Aufsätze, damit sie ihre jährlichen Leistungsbeurteilungen bestehen können", wird etwa ein Wissenschaftler der Fudan-Universität aus Shanghai zitiert. Ein Forscher von der Tsinghua-Universität erzählt, dass am Institut für Fahrzeugtechnik drei bis vier Veröffentlichungen pro Jahr erwartet werden. "Im vergangenen Jahr bin ich auf elf Papers gekommen." Jedoch mit welcher Qualität?

Der Wunsch erster, bester und schnellster zu sein, mag auch den Biogenetiker He Jiankui angetrieben haben. Er hatte in den Vereinigten Staaten studiert und kam als Schildkröte zurück. Bis vergangenen November konnten allerdings selbst Fachleute mit dem Namen kaum etwas anfangen. Bis er über Nacht berühmt wurde und neben der Mondmission den zweiten großen Anlass zur Berichterstattung über Chinas Wissenschaft in den vergangenen zwölf Monaten lieferte.

Und dann kam der ethische Dammbruch

Genau einen Tag, bevor die wichtigste Konferenz des Fachs in Hongkong anfing, lud er bei Youtube drei Videos hoch, gefilmt in seinem Labor in Shenzhen. He erzählte darin von Lulu und Nana, von Grace und Mark. Von einer glücklichen Familie, wie er sagte - dank ihm. Grace und Mark, das sind die Pseudonyme der Eltern. Lulu und Nana sind Zwillinge, die ersten Kinder, deren Gene verändert worden sind. Weil der Vater mit HIV infiziert ist, manipulierte He mit der Genschere das Erbgut so, dass die Babys gegen das Virus immun sind - medizinisch kein notwendiger Eingriff, aber ein ethischer Dammbruch. Bis dahin hatte es eine klare Übereinkunft unter Forschern weltweit gegeben: Veränderungen an der menschlichen Keimbahn, sind tabu, zu groß sind die Risiken, das Erbgut zu beschädigen.

Auf der Konferenz in Hongkong meldete sich dann ein Professor der Peking-Universität zu Wort: "Es gibt unter chinesischen Wissenschaftlern eine klare Vereinbarung, dass wir nicht an Menschen forschen", sagt er. "Warum haben Sie die klinischen Studien heimlich durchgeführt?", fragte er erbost. "Die Leute brauchen Hilfe. Wir haben die Technologie dazu, also sollten wir ihnen auch helfen", antwortete He. Es sollte sein letzter öffentlicher Auftritt sein. Forschen darf er seitdem nicht mehr, mutmaßlich steht er unter Hausarrest.

Die Führung in Peking ist unerbittlich, wenn es um die Zukunft Chinas geht.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2019/weis
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