Süddeutsche Zeitung

China:An der Quelle

Auf dem Qinghai-Tibet-Plateau entspringen einige der wichtigsten Flüsse. Doch das Wasser schwindet, und mehr Staudämme entstehen.

Von Christoph Behrens

"Nebel, Nebel", flucht der Fahrer, während er das Auto durch die Serpentinen lenkt. Von der Wiese starrt eine Gruppe schwarzer Yaks herüber, um die Kurve biegt eine Herde Schafe. Ein Hirte auf dem Motorrad treibt die Tiere hupend am Auto vorbei. Der Gelbe Fluss kommt in Sicht. Einige Hundert Meter weiter unten schlängelt sich der Strom durch das Tal im Kanbula-Nationalpark in der chinesischen Provinz Qinghai, nahe der kleinen Stadt Guidè. Von hier nimmt der "Mutterfluss", der das Leben von etwa 150 Millionen Menschen berührt, seinen Lauf durch China. Neun Provinzen und rund 5000 Kilometer später stürzt er in den Pazifik, ausgemergelt und träge, bis obenhin belastet mit Abfall. Doch hier auf etwa 3000 Meter Höhe ist von der Verschmutzung noch nichts zu sehen, das Wasser ist klar und eiskalt. In dieser Gegend im Westen Chinas scheint die Zeit manchmal stehen geblieben zu sein. Der Blick geht auf Viertausender, Vorposten des Himalaja. In den Dörfern der Region kneten Männer mit runden weißen Hüten Nudeln, Frauen mit spitzen Kopftüchern servieren sie. Auf den Märkten feilschen tibetische Mönche in roten Roben um den Preis für Räucherstäbchen und Gebetsöl für ihre Klöster.

Doch der gemächliche Eindruck täuscht. Hinter der Fassade entwickelt sich das Dach der Welt rasant. Selbst hier oben im Nationalpark begegnet man alle paar Hundert Meter einem Bautrupp. Dreckverschmierte Männer ziehen mit bloßen Händen Mauern hoch, zimmern Aussichtsplattformen für Touristen. Ökologisch weniger harmlos ist, was am Fluss passiert. Dort angelangt, sieht man Bagger, die das Ufer abtragen. Neben dem Fluss steht eine Grube voll stahlblauen Wassers. Die Chemiebrühe ist ein Hinweis darauf, dass hier nach Gold und anderen Edelmetallen gesucht wird. Der Bergbau am Fluss ist zwar offiziell verboten, hier draußen interessiert das aber nicht viele Beamte. Goldgräberstimmung herrscht überall im fernen Westen Chinas. In den Tälern entstehen neue Brücken, Hochhäuser und Autobahnen, eine Highspeed-Zugverbindung bis nach Tibet. Nomaden geben ihr traditionelles Leben auf und ziehen in die Städte.

Der Aufschwung hat Auswirkungen weit über Chinas Grenzen hinaus. Nicht nur der Gelbe Fluss entspringt auf dem Tibet-Qinghai-Plateau, sondern die neun längsten Flüsse Asiens - der Brahmaputra fließt nach Bangladesch, der Mekong nach Vietnam, der Indus nach Indien, es sind die Lebensadern vieler Kulturen. Und alle entspringen sie auf chinesischem Staatsgebiet. Wenn der Amazonas-Regenwald die Lunge des Planeten ist, dann ist das Tibet-Qinghai-Plateau seine Zisterne. Wegen der mehr als 40 000 Gletscher nennt man die Region auch den dritten Pol der Erde. Doch das Eis ist nicht so ewig wie es scheint.

"18 Prozent der Gletscher in der Region sind weg, verschwunden", sagt Shichang Kang, Klimaforscher und Direktor des staatlichen Labors für Kryosphärenforschung. Kang, der regelmäßig Expeditionen in mehr als 7000 Meter Höhe leitet, hat die Veränderungen der Gletscher seit den 1950ern ausgewertet und ist beunruhigt. "Auf einem Großteil des Plateaus gibt es einen großen Schwund", sagt er. Die Befunde werden von vielen weiteren Studien gestützt. In Teilen der Region haben sich die Gletscher um 40 Prozent zurückgezogen, jedes Jahr gehen in Westchina etwa 200 Quadratkilometer Eis verloren. Der Klimawandel macht sich auf dem Dach der Welt längst bemerkbar und könnte sich in Zukunft noch verschärfen. Eine Studie der chinesischen Akademie der Wissenschaften warnt, bis zum Jahr 2050 könnte ein weiteres Drittel der Gletscherfläche verschwinden.

Für die Anrainer der Flüsse - insgesamt rund 1,3 Milliarden Menschen - ist das keine gute Nachricht. Die Gletscher des Plateaus sorgen für einen gleichmäßigen Strom der Flüsse. Verzögert sich etwa der Monsun Ende Mai, dann kann die Eisschmelze im Frühjahr den Wassermangel ausgleichen. Doch wenn die Berge insgesamt weniger Wasser speichern und liefern, drohen Dürren und Ernteausfälle.

Indien fürchtet, China könnte die Staudämme im Konfliktfall als Waffe einsetzen

Mit der rasanten Entwicklung in China könnten sich Konflikte um das Wasser verschärfen. "Als im Frühjahr in Vietnam und Kambodscha sehr wenig Regen fiel, haben die Länder unsere Regierung gebeten, mehr Wasser von den Staudämmen freizugeben", sagt Kang. China sei der Bitte nachgekommen. China hilft, China kümmert sich um die Nachbarn, das ist die Botschaft. Doch das Land trägt auch seinen Teil zu den Problemen bei. Nur wenige Kilometer oberhalb des Kanbula-Nationalparks bremst ein Staudamm den Gelben Fluss. Das 178 Meter hohe Bauwerk produziert 1,2 Gigawatt Strom, mehr als ein Kernreaktor. Einige Kilometer unterhalb des Parks steht ein weiterer Damm.

Überall im Westen Chinas werden die Flüsse angezapft, um den wachsenden Energiehunger zu stillen. Jedes Jahr kommt hier mehr Strom aus Wasserkraft hinzu als im gesamten Rest der Welt. Vor allem in Tibet entsteht gerade ein Megastaudamm nach dem anderen, sehr zum Unmut der Nachbarstaaten. Bauarbeiten am Oberlauf des Brahmaputra haben bereits erhebliche diplomatische Verstimmungen mit Indien ausgelöst. Im Jahr 2000 brach ein Damm am Yarlung Zangbo zusammen, wie der Fluss in China heißt, die Sturzflut tötete 30 Menschen im indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh, auf dessen Territorium auch China Ansprüche erhebt. Derzeit plant China an dem Fluss sieben weitere Staudämme. Indische Medien befürchten, dass sich ähnliche Unfälle wiederholen könnten - oder dass China die Kontrolle über das Wasser im Konfliktfall sogar als Waffe einsetzen könnte.

"Es gibt keinen Grund für Indien, auf solche Projekte überzureagieren", versuchte das chinesische Staatsmedium Global Times kürzlich zu beruhigen. Es sei "unwahrscheinlich, dass China das Wasser des Flusses als potenzielle Waffe nutzt" - eine derartige Politik würde schließlich auch Panik unter den Ländern Südostasiens auslösen. Fakt ist: China hat allein aufgrund seiner geografischen Lage enorme Macht über das Wasser.

Auch Staaten wie Myanmar oder Thailand seien deshalb "sehr sehr wütend auf China", sagt Wang Yongchen. Die Umweltaktivistin leitet in Peking die Organisation Green Earth Volunteers, die sich für den Erhalt der letzten wilden Bergflüsse einsetzt. Sorge vor bewaffneten Konflikten um das Wasser hält Yongchen zwar für überzogen. Allerdings gebe es genügend andere Gründe, keine weiteren Dämme mehr zu bauen. "Wasserkraft vertreibt zu viele Menschen", sagt Yongchen. Tausende Menschen müssten ihr Land für die Bauwerke verlassen, vor allem ethnische Minderheiten seien auf dem Hochland von Umsiedlungen betroffen. Besonders ärgert sie, dass der viele Strom in China kaum noch gebraucht werde - die Stromnetze könnten schlicht keine Elektrizität mehr aufnehmen.

Im Magazin Science riefen Fachleute kürzlich dazu auf, viele der geplanten Projekte sorgfältiger zu prüfen. "Große Dämme senken ausnahmslos die Artenvielfalt von Fischen", schreiben die Wissenschaftler. Tierbestände erreichen wegen der Barrieren nicht mehr ihre Laichplätze, die Bestände gingen deshalb nach dem Bau von Wasserkraftwerken häufig zurück - ein wirtschaftliches Desaster für Fischer.

Bislang gibt es beispielsweise zwischen China und Indien keine bindenden Abkommen über die Nutzung der Flüsse - selbst um den Austausch hydrologischer Daten während der Monsunzeit wird erbittert gefeilscht. Auch Indien baut auf eigenem Staatsgebiet neue Staudämme, was wiederum Bangladesh verärgert. Eine Zusammenarbeit wäre wohl schon aus gemeinsamem Interesse sinnvoll, denn langfristig könnten die Wasserressourcen für alle Anrainer schwinden. Teile der Gletscher des tibetischen Plateaus haben sich mittlerweile schwarz verfärbt, von Smog, der Hunderte oder sogar Tausende Kilometer weit gereist ist. Shishang Kang hat das schwarze Eis untersucht und im Fachmagazin Nature Climate Change nachgewiesen, dass der Ruß aus Schornsteinen und Autos in Indien und China kommt. Der schwarze Schnee absorbiere wegen der dunkleren Farbe mehr Sonnenlicht und heize sich deshalb schneller auf, sagt Kang. Die Luftverschmutzung beschleunigt also die Gletscherschmelze.

Erst allmählich versteht man, wie anfällig das tibetische Plateau für solche Umweltveränderungen ist. Den Einwohnern macht das bislang wenig Sorgen. An einer Brücke über den Gelben Fluss endet die Fahrt durch den Kanbula Nationalpark, der Fahrer steigt aus dem Wagen. Er kramt einen Kaugummi hervor und wirft das Papier auf den Boden. Der Wind weht den Müll schnell davon.

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Quelle:
SZ vom 15.12.2016
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