Wasserstoff:„Wir opfern eine Region in Chile für die Interessen anderer“

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Windrad in Magallanes. (Foto: SEREMI Energia Magallanes)

Das Land will seine extremen Klimabedingungen nutzen, um grünen Wasserstoff zu produzieren. Europäische Firmen stehen Schlange – doch viele Einheimische sind entsetzt.

Von Judith Mintrop, San Gregorio

Heraldo Norambuena steht auf einer kleinen, hölzernen Aussichtsplattform, seine Kapuze hat er zugeschnürt, es regnet ein wenig und es bläst ein kalter Wind. Mit dem Fernglas sucht er die Küste der Inselgruppe Feuerland ab. „Jedes Jahr kommen rund 100 000 Vögel verschiedener Arten hierher“, sagt der Biologe.

Das Feuchtgebiet Bahía Lomas in der Region Magallanes ist ein wichtiger Lebensraum für Küstenvögel. Von hier aus ist es nicht weit bis zum Kap Hoorn, weiter südlich liegt nur noch die Antarktis. Die Landschaft ist gezeichnet von Fjorden, Gletschern und weitläufiger patagonischer Steppe. Windiges, raues Wetter herrscht hier eigentlich immer. Und genau dieses soll nun genutzt werden – zur Herstellung von grünem Wasserstoff, um die globale Energiewende voranzutreiben. Dazu braucht es viele Windräder, die den dafür nötigen Strom liefern.

Heraldo Norambuena. (Foto: Judith Mintrop)

Norambuena zeigt von der Aussichtsplattform hinaus aufs Meer. „Dort drüben, auf der anderen Seite der Magellanstraße, liegt die Kommune San Gregorio. Dort sollen sich viele Wasserstoff-Projekte ansiedeln.“ Die Magellanstraße trennt Feuerland vom chilenischen Festland und verbindet den Atlantik mit dem Pazifik. In nur 20 Minuten lässt sich das Festland mit der Fähre erreichen, auch die Vögel nutzen die Route, um ins Naturschutzgebiet zu kommen. „Es gibt bedrohte Arten, wie die Rotkopfgans oder den Magellanregenpfeifer, von dem es wohl nur noch 500 bis 600 Exemplare gibt“, sagt Norambuena. „Die Installation von Windrädern auf der Route dieser Spezies kann verheerende Auswirkungen haben. Damit könnten wir eine Art auslöschen.“ 

An sich sei er dafür, dass die erneuerbaren Energien ausgebaut und Wasserstoff produziert wird. Doch die Größenordnung erschreckt ihn. So ist die Rede davon, dass allein in der Region Magallanes rund 13 Prozent des weltweiten Bedarfs an grünem Wasserstoff hergestellt werden könnten. Das entspräche einer installierten Windkraft-Leistung von 126 Gigawatt. In ganz Deutschland sind derzeit 66 Gigawatt Windenergie installiert.

„Wasserstoff und dessen Derivate können hier zu den günstigsten Produktionskosten weltweit hergestellt werden“, erklärt Sergio Cuitiño von der regionalen staatlichen Behörde für Energie in Magallanes. Nirgendwo sonst könnten Windräder eine höhere Auslastung erreichen als hier.

Heraldo Norambuena hält das für den falschen Ansatz. „Der Großteil der hier produzierten Energie wird ins Ausland exportiert. Während die privaten Investoren und die Importeure von der Produktion profitieren, muss die Region die Umweltschäden tragen.“ Deshalb könne man davon sprechen, „dass wir eine Region in Chile für die Interessen anderer opfern“. Diese Sorge hat Norambuena zusammen mit mehr als 80 Umweltexperten bereits vor zwei Jahren in einem offenen Brief an Chiles Präsidenten Gabriel Boric zum Ausdruck gebracht. Bis heute blieb der Brief unbeantwortet.

Die bislang einsame Region könnte sich von Grund auf verändern

Chile hat sich ambitionierte Ziele gesteckt. Das Land möchte bis 2040 zu einem der drei größten Lieferanten von grünem Wasserstoff werden. Nirgends soll dieser günstiger produziert werden als hier. Wird Wasserstoff mit regenerativen Energien hergestellt, spricht man von grünem Wasserstoff, er gilt als zentral für die Energiewende. In Deutschland soll er vor allem in der chemischen Industrie und der Stahlindustrie zum Einsatz kommen. Aber auch Schiffe, Flugzeuge und Schwerlaster sollen in Zukunft mit Wasserstoff angetrieben werden. Zehn Millionen Tonnen grüner Wasserstoff müssten deshalb von 2030 an jährlich importiert werden, sagt Ewout Sandker, Leiter der EU-Delegation in Chile. „Und das passiert nicht von selbst. Irgendjemand muss den Wasserstoff produzieren, zertifizieren und exportieren. Und Chile hat exzellente Bedingungen dafür.“

Untermauert werden diese Ambitionen vom Besuch hochrangiger Politiker – Olaf Scholz war schon da oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. 200 Millionen Euro hat die EU bereitgestellt, um Projekte für erneuerbaren Wasserstoff in Chile zu finanzieren. Auch das deutsche Wirtschaftsministerium hilft finanziell, es fördert unter anderem das Pilotprojekt „Haru Oni“, an dem Siemens Energy und Porsche beteiligt sind, mit 8,2 Millionen Euro. Die Pilotanlage in Magallanes soll weltweit die ersten synthetischen Kraftstoffe in kommerziellem Maßstab liefern. Bisher dreht sich dort allerdings nur ein einzelnes Windrad.

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Damit die Region zum Hotspot der Wasserstoffindustrie aufsteigt, bräuchte es Tausende Windräder, neue Straßen, Strommasten, Wasserleitungen, Meerwasserentsalzungsanlagen sowie Häfen. Auch Wohnraum für die Arbeiter und deren Familien müsste geschaffen werden. Kurzum: Die bislang einsame Region würde sich von Grund auf verändern.

„Das kann nicht im Einklang mit der Natur passieren“, meint Alfonso Campos. Der 76-jährige Anwalt lebt in der Kommune San Gregorio, seine Familie besitze hier seit mehr als 150 Jahren Land. „Ich fühle mich verpflichtet, diese Ländereien im Sinne der Natur weiterzuführen. Das hier ist der falsche Ort, um solch riesige Projekte zu realisieren“, sagt Campos. Doch einige seiner Nachbarn hätten bereits Verträge mit Betreiberfirmen unterzeichnet. So will HNH Energy sich hier ansiedeln, ein Joint-Venture zwischen den österreichischen Unternehmen Austria Energy und Ökowind sowie dem auf grüne Energien spezialisierten Investmentfonds Copenhagen Infrastructure Partners (CIP). Die Investoren möchten grünen Ammoniak zum Export produzieren, für Dünger, Kühlmittel oder Arzneien. Bisher wird der chemische Grundstoff zumeist aus fossilen Energieträgern wie Erdgas und Kohle produziert.

In ein paar Kilometer Entfernung gibt es bereits einen Hafen – braucht es da noch einen?

Langfristig will HNH Energy 3,5 Gigawatt Strom per Windpark produzieren, damit ließen sich jährlich 1,4 Millionen Tonnen grüner Ammoniak herstellen. In Deutschland wurden 2021 zwischen zweieinhalb und drei Millionen Tonnen fossiler Ammoniak hergestellt. Trotz der Größe des Projekts betont Oswaldo Richards, Projektleiter bei Austria Energy, dass die Umweltbelastungen möglichst gering ausfallen sollen. Geplant ist nicht nur ein Windpark und eine Industrieanlage mit Ammoniakspeichern, sondern auch eine Meerwasserentsalzungsanlage, die das Wasser für die Elektrolyse liefern soll, sowie ein Hafen.

Unverständlich für Alfonso Campos, da sich in sechs Kilometer Entfernung bereits ein Hafen befinde. Projektleiter Oswaldo Richards entgegnet, dass der Bau eines neuen Hafens unverzichtbar wäre. „Es gibt zwar Häfen in der Gegend, aber diese haben weder die Kapazitäten, um die Bestandteile für den Aufbau der Wasserstoffindustrie zu importieren, noch haben sie Kapazitäten für den Export von Ammoniak.“ Außerdem sei die Lage des bestehenden Hafens ungünstig, die Strömungen dort ließen nur eine eingeschränkte Nutzung zu. Richards betont, dass der neue Hafen nicht nur HNH Energy nütze: „Es ist geplant, den Hafen so zu bauen, dass jährlich rund zehn Millionen Tonnen Ammoniak exportiert werden können. Das ist das Zehnfache der Menge, die wir produzieren werden. Das planen wir mit dem Hintergedanken, dass auch andere diesen Hafen nutzen sollen.“

4000 Kilometer nördlich, am anderen Ende von Chile, soll die Region Antofagasta zu Chiles zweitem Hauptstandort für die Produktion von grünem Wasserstoff werden. Statt Wind gibt es hier Sonne satt. Durch die Region Antofagasta erstreckt sich mit der Atacama-Wüste die trockenste Wüste mit der intensivsten Sonneneinstrahlung weltweit.

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Bislang wird hier vor allem Kupfer und Lithium abgebaut und von Mejillones aus in die ganze Welt verschifft. Den Strom für die Minen liefern zahlreiche Kohlekraftwerke. Die Gegend gilt in Chile als eine sogenannte Opferzone. Immer wieder ereigneten sich hier verheerende Industrieunfälle. Die Schwermetallbelastung ist hoch, die Region hat die höchste Lungenkrebsrate im Land.

Jetzt soll saubere Energie nicht nur die schmutzigen Kohlekraftwerke der Region ersetzen, sondern auch in Form von grünem Wasserstoff in die Welt exportiert werden. Die bereits vorhandene Infrastruktur würde der Region einen Vorsprung verschaffen, sagt Dafne Pino Riffo von der regionalen staatlichen Behörde für Energie in Antofagasta. „Im Unterschied zur Region Magallanes haben wir bereits eine installierte und funktionierende Energiewirtschaft.“ Außerdem fungierten die ansässigen Minen als Verstärker für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Schließlich müsse auch der Bergbau klimaneutral werden.

Bereits seit Jahren installieren internationale Energieunternehmen große Photovoltaik-Anlagen in der Wüste. Auch ein solarthermisches Kraftwerk ist entstanden. Erneuerbarer Strom ist deshalb schon zeitweise im Überschuss vorhanden. Fehlen noch die Anlagen, um grünen Wasserstoff herzustellen. Bisher wurde ein Projekt bewilligt, ein paar weitere wurden zur Umweltverträglichkeitsprüfung eingereicht. „Bisher gibt es vor allem kleine Pilotanlagen“, sagt Pino Riffo. Mit größeren Mengen an Wasserstoff oder Ammoniak sei erst in einigen Jahren zu rechnen.

 Magallanes und Antofagasta – zwei chilenische Regionen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch sie eint ein Ziel: die natürlichen Gegebenheiten zu nutzen, um die globale Energiewende voranzutreiben. Der Biologe Heraldo Norambuena bleibt jedoch skeptisch: „Momentan sieht es eher so aus, als würden sie das Maximum herausholen wollen. Und das wäre aus Sicht des Umweltschutzes ein Desaster.“

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