Süddeutsche Zeitung

Chemische Waffen:Gifte des Grauens

Chemische Kampfstoffe haben unsägliches Leid angerichtet. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OPCW, hat trotz weltweiter Unterstützung noch viel zu tun. In Lindau ist ein Vertreter zu Gast.

Von Christopher Schrader

Atem des Teufels - so nannten die alliierten Soldaten die Waffe, die deutsche Truppen vor knapp hundert Jahren, zum ersten Mal am 12. Juli 1917, auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs einsetzten. Das Senfgas, auch Schwefel-Lost oder Gelbkreuz genannt, war eigentlich eine Flüssigkeit, die bei der Explosion von Granaten versprüht wurde. Sie drang durch poröse Gewebe wie Uniformen und verätzte erst recht jeden unbedeckten Flecken Haut, einschließlich Augen, Lippen, Mund und Luftröhre. Die Blasen platzten später auf und hinterließen offene Wunden, die kein Feldspital in den Griff bekam.

Der erste Angriff traf die Schützengräben der Alliierten bei Ypern in Belgien, wie schon die erste Chlorgas-Attacke im April 1915 - der Start des Kriegs mit chemischen Kampfstoffen.

Und weil die Gegner der Deutschen danach bald mit gleichen und ähnlichen Mitteln zurückschlugen, kamen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 etwa 90 000 Soldaten durch Chemiewaffen ums Leben; eine Million Kämpfer verloren das Augenlicht, wurden entstellt oder erlitten Verletzungen, die ihre Rückkehr ins zivile Leben erheblich erschwerten.

2013 erhielt die OPCW für ihren Einsatz den Friedensnobelpreis

Diese Zahlen nennt die internationale Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag, die die Umsetzung der 1997 in Kraft getretenen internationalen Konvention gegen die Entwicklung, Herstellung und den Einsatz der unmenschlichen Munition überwacht. Sie wurde im Jahr 2013 für ihre Arbeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, als sie gerade ihren ersten Einsatz in Syrien hatte. In Orten östlich von Damaskus waren damals Raketen mit dem Kampfstoff Sarin eingeschlagen. Die internationale Empörung und eine Übereinkunft zwischen Russland und den USA zwang das Bürgerkriegsland zum Beitritt zur Konvention. Das verschaffte der OPCW die Gelegenheit, dort Produktions- und Abfüllanlagen zerstören zu lassen sowie Vorräte und Ausgangssubstanzen abzutransportieren und woanders zu vernichten.

"Die Konvention war das Resultat der Tragödie, die chemische Waffen angerichtet haben, der Verachtung für diese willkürlichen Mittel der Zerstörung sowie von 100 Jahren Diplomatie", sagte OPCW-Generaldirektor Ahmed Üzümcü vor einem Monat zum 20. Jubiläum des Vertragswerkes. Er nimmt dieses Jahr an der jährlichen Tagung der Nobelpreisträger in Lindau teil, deren Schwerpunktthema Chemie ist.

Es ist absehbar, dass seine Organisation demnächst in eine neue Phase eintritt. Die letzten beiden Vertragsstaaten, die noch Chemiewaffen im Arsenal haben, sind Russland und die USA. Sie haben die Vernichtung für 2020 und 2023 angekündigt, sagt Alexander Kelle, der im Stab der OPCW für die strategische Planung mitverantwortlich ist. Danach müsse der Fokus darauf liegen, zu verhindern, dass sie wieder angeschafft werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann verstärkt auf Vorgängersubstanzen und sogenannte Dual-Use-Stoffe, die zivil wie militärisch zu verwenden sind. "Wir machen schon seit Jahren regelmäßig Inspektionen in Industriebetrieben, das ist bisher bloß eher unter dem Radar der Öffentlichkeit geblieben. Es geht schließlich darum, dass alle Staaten ihr Vertrauen in das vertragsgerechte Verhalten der anderen behalten."

Das internationale Regelwerk, dem 192 Staaten beigetreten sind (es fehlen nur Nordkorea, Südsudan, Ägypten und Israel), ist mindestens der fünfte Versuch, die grausamen Kampfstoffe zu ächten und zu bannen. Den ersten unternahmen Deutschland und Frankreich schon 1675, als sie sich einigten, keine vergifteten Gewehrkugeln zu verwenden. Zwischen 1874 und 1925 suchten Konferenzen in Brüssel, Den Haag und Genf die Produkte aus den Labors vom Schlachtfeld fernzuhalten.

Das gelang nach den Gräueln von 1915 bis 1918 nur halbwegs, immerhin wurden sie im Zweiten Weltkrieg nicht eingesetzt, obwohl alle Seiten sie besaßen. Danach griffen vor allem arabische Potentaten zur "Atombombe des kleinen Mannes": Gamal Nasser, Muammar Gaddafi, Saddam Hussein und Baschar al-Assad - und die Terrorgruppe Islamischer Staat. Angesichts der unübersichtlichen Lage im Nahen Osten ist die Arbeit der OPCW längst nicht getan. Die Organisation untersucht noch einen Angriff mit dem Nervengas Sarin auf den syrischen Ort Khan Scheikhun bei Idlib vom April 2017. Wie schon 2013 sind im Westen viele sicher, Assads Regime habe zum Gift gegriffen; Russland hingegen behauptet, die Kampfstoffe hätten Rebellengruppen gehört. Die Frage der Schuldzuweisung, sagt Alexander Kelle, gehört aber nicht originär zum Auftrag der OPCW.

Die Verantwortung für den Beginn der Rüstungsspirale, die die OPCW nun beenden soll, liegt zum großen Teil bei deutschen Wissenschaftlern. Der wohl prominenteste hieß Fritz Haber, der von sich sagte, er arbeite "im Frieden für die Menschheit, im Krieg für das Vaterland". Er bekam im Jahr 1918 den Nobelpreis für das ein Jahrzehnt zuvor entwickelte Verfahren, Stickstoff im großindustriellen Maßstab aus der Luft zu entnehmen - als Basis für Kunstdünger. Doch in den Jahren zwischen Erfindung und Ehrung war Haber die treibende Kraft hinter dem Chlorgasangriff vom April 1915.

Das damals verwendete Gas ordnet die OPCW heute als Lungenkampfstoff ein, eine von vier verwendeten Kategorien. Solche Substanzen greifen die Atemwege an, die sich dann mit Flüssigkeit füllen; die Soldaten im Ersten Weltkrieg husteten nach Berichten hilfloser Helfer Teile ihrer eigenen zerstörten Lungen aus. Auch das tückische Phosgen (Grünkreuz) gehört in diese Kategorie.

Daneben gibt es noch Blutkampfstoffe wie Chlorcyan und Arsenwasserstoff: Sie unterbinden die Fähigkeit der roten Blutkörperchen, Sauerstoff zu transportieren, die Getroffenen ersticken. Nervenkampfstoffe wiederum blockieren die Weiterleitung von Impulsen im Nervensystem, sodass sich Muskeln im ganzen Körper verkrampfen, einschließlich der Atemmuskulatur. Die Substanzen Tabun und Sarin wurden in den späten 1930er-Jahren von Mitarbeitern der deutschen IG Farben hergestellt. Hautkampfstoffe wie Senfgas schließlich sollten den Gegner nicht unbedingt töten, sondern schwer verletzen und seine Seite damit sogar stärker schädigen. Verwundete Soldaten mit grauenhaften Verletzungen demoralisierten die Kameraden und banden Ressourcen hinter der Front.

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Quelle:
SZ vom 29.06.2017
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