Süddeutsche Zeitung

Chemiemüll:Pumpen ohne Ende

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Die Altlasten der Chemieindustrie vergiften das Grundwasser auf zig Quadratkilometern. Sie zu beseitigen, ist nicht geplant.

Von Andrea Hoferichter

Wenn Holger Weiß seine "berühmten Fläschchen" präsentiert, geht es nicht etwa um edle Tropfen aus der Toskana, sondern um Altlasten der Chemieindustrie in der Region Bitterfeld-Wolfen. Beim Videointerview hält der Chemiker vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig eine etwa faustgroße Glasflasche vor die Kamera, in der zwei durchsichtige Flüssigkeiten übereinander wabern. Wie Öl und Wasser im Nudeltopf mischen sie sich kaum, nur dass hier das Wasser oben schwimmt. "Die untere Phase, das ist Trichlorethylen. Das kennen Sie vielleicht noch als Fleckenwasser, das hatte einen ganz eigenen Geruch", sagt Weiß.

Die giftige und krebserregende Substanz zählt zu den sogenannten Chlorkohlenwasserstoffen, von denen in Bitterfeld Tausende verschiedene produziert wurden, als Entfettungsmittel für die Metallindustrie beispielsweise oder als Rohstoffe für Pestizide und Holzschutzmittel. Jahrzehntelang wurden die Gifte sorglos in leere Ton- und Braunkohlegruben gekippt, sanken durch den Boden ins Grundwasser und noch darunter, bis die Geologie sie stoppte. "In Bitterfeld ist das eine Tonlage und die liegt in etwa 50 bis 70 Metern Tiefe", sagt Weiß. Dort schlummern die Gifte noch heute und speisen das Grundwasser darüber mit Gift. Von oben sickert zusätzlich aus der Deponie Antonie ein nicht minder toxischer Chemiecocktail mit dem Pflanzenschutzmittel Lindan nach. Das Grundwasser ist auf einer Fläche von 25 Quadratkilometern vergiftet.

Bitterfeld ist das wohl prominenteste Beispiel dafür, wie der sorglose Umgang mit Chemikalien nachfolgende Generationen belasten kann, aber nicht das einzige. Im Untergrund von ehemaligen wie aktuellen Standorten der Chemieindustrie im Westen der Bundesrepublik sieht es ähnlich aus, unter anderem am Industriepark Höchst bei Frankfurt, am von Evonik betriebenen Chemiepark Marl, bei Bayer in Leverkusen, H.C. Starck in Goslar oder bei der BASF in Grenzach. Und wie in Bitterfeld wird das vergiftete Grundwasser eher gemanagt denn entschärft. Belastete obere Bodenschichten werden ausgetauscht, Deponien von oben abgedichtet, um Sickerwasser zu minimieren, und unterirdische Dichtwände gebaut, um Wohngebiete oder Gewässer zu schützen. Pumpen sorgen dafür, dass sich das belastete Grundwasser nicht ausbreiten kann.

Den Giftmüll komplett zu entfernen würde allein in Bitterfeld mehr als 500 Milliarden Euro kosten

In Bitterfeld sind es mehr als 50 Pumpen. Jedes Jahr saugen sie rund zweieinhalb Millionen Kubikmeter aus dem Untergrund und halten den Grundwasserspiegel so niedrig, dass zwar Wasser von außen hinzuströmen, aber nichts abfließen kann. Das abgepumpte Wasser wird tausendfach verdünnt, bevor es in einer Kläranlage gereinigt wird. "Die Bakterien im Klärwerk würden sonst ihre nicht vorhandenen Beine in die Luft strecken", sagt Weiß. Mit dem Grundwasser wurden bereits Hunderte Tonnen Schadstoffe geborgen. "Aber die Belastung des Grundwassers ist auch nach gut 20 Jahren Pumpen und Reinigen nicht weniger geworden. Die Konzentration mancher Stoffe steigt sogar. Das ist eine endlose Angelegenheit", so der Forscher. Die Maßnahmen kosten laut Sanierungsrahmenplan jedes Jahr 50 Millionen Euro, finanziert durch öffentliche Mittel.

"Das Problem sollte nicht verwaltet, sondern gelöst werden", sagt der Schweizer Abfallexperte Martin Forter. "Die Dichtwände halten nicht ewig. Wie lange, das weiß keiner. Dann müssen sie wieder geflickt werden. Das alles kann dann durchaus sogar teurer werden als eine Sanierung." In der Schweiz sei es deshalb erklärtes Ziel, die Umweltsünden der Vergangenheit so schnell wie möglich zu beseitigen. An einigen Standorten sei das schon geschehen. Der Giftmüll wurde entfernt, sortiert, zum Teil verbrannt und der Rest in Untertagedeponien gebracht, die Endlager für toxische Substanzen.

In Deutschland hat laut dem Bundes-Bodenschutzgesetz von 1999 die sogenannte Gefahrenabwehr Priorität. "Da steckt einfach eine andere Philosophie dahinter", sagt Jörg Frauenstein vom Umweltbundesamt. "Wir haben den gesellschaftlichen Konsens, dass jungfräuliche Grundwasserleiter nach einem Grundwasserschaden nicht wiederhergestellt werden können. Da geht es um technische Machbarkeit und um Kosten. Verhältnismäßigkeit ist hier das Stichwort." In Bitterfeld sei eine vollständige Beseitigung des giftigen Erbes allein schon wegen der Schadensgröße nicht möglich.

Das sieht auch der UFZ-Forscher Weiß so. Man müsste nicht nur sehr tief graben, sondern auch alles luftdicht überdachen, damit keine giftigen Gase entweichen. "Eine Einhausung zehn Kilometer mal fünf Kilometer für zig Jahre, die ganze Fläche unter ein luftdichtes Zelt: Das ist nicht vorstellbar", sagt er. Harald Rötschke von der Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft (MDSE), zuständig für Altlastensanierung in der Region, findet den Hinweis auf die Projekte in der Schweiz grundsätzlich unfair. Die belasteten Mengen seien im Vergleich "sehr, sehr überschaubar". Lege man die Sanierungskosten aus dem Nachbarland zugrunde, käme für die verseuchte Fläche in Bitterfeld eine Summe von über 500 Milliarden Euro zusammen. "Das ist deutlich mehr als der Bundeshaushalt für ein ganzes Jahr. Und dann wäre ja auch noch die Frage, wo das alles hinsoll." Allein der giftige Inhalt der Deponie Antonie würde etwa 12 Millionen Lkw-Ladungen füllen.

Die Altlasten von morgen: Mikro- und Nanoplastik, Medikamente, Substanzen aus Kleidung und Pizzakartons

Dennoch kann das Kriterium "Verhältnismäßigkeit" durchaus unterschiedlich ausgelegt werden. Das zeigt das Beispiel Kesslergrube bei Grenzach am Rhein. Während der Pharmahersteller Roche dort fast eine viertel Milliarde Euro investiert, um die Altlasten auf seiner Seite der Grube auszukoffern und den Bereich komplett zu sanieren, setzt der Chemiekonzern BASF auf Maßnahmen wie in Bitterfeld. Kostenpunkt: rund 70 Millionen Euro. Die belastete Fläche sei mehr als doppelt so groß als auf der Roche-Seite und zudem überbaut, erklärt das Unternehmen seine Entscheidung. Der Landesverband Baden-Württemberg der Naturschutzorganisation BUND hat gegen die Pläne geklagt, bisher ohne Erfolg. Eine Berufung wurde zugelassen, ein Urteil steht noch aus.

Das aktive Managen von Altlasten auf unbestimmte Zeit sei keine gute Lösung, sagt Sven Hagemann vom Endlagerforschungszentrum der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Braunschweig. "Für ein paar Jahrzehnte kann das sinnvoll sein. Aber wenn man da 100 Jahre oder mehr pumpen soll, ist schon eine gewisse Skepsis angebracht. Was ist, wenn Ressourcen fehlen, die Pumpen selber zum Beispiel? Oder es wird sich nicht ordentlich gekümmert? Das ist alles nicht auszuschließen." Eine Pflicht zur Beseitigung kann er sich aber nicht vorstellen. Es gebe mehr als 270 000 verdächtige Altlastenflächen, auch aus dem Bergbau mit vielen giftigen Schwermetallen. "Da muss man schon sehen, dass die Maßnahmen sinnvoll und angemessen sind und die Risiken abwägen."

Eine Lösung für das giftige Erbe der Chemieindustrie ist nicht in Sicht. Und schon kommen die Altlasten von morgen dazu, Mikro- und Nanoplastik zum Beispiel mit zum Teil bedenklichen Zusatzstoffen, Medikamente oder sogenannte per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS) aus Löschmitteln, wetterfester Kleidung oder beschichteten Pizzakartons. Die Problemstoffe verschmutzen Böden, Flüsse und auch das Grundwasser. Ob man sie jemals wieder herausbekommt, ist unklar. Der Schweizer Altlastenexperte Forter rät zur Nulldiät: "Die einzige nachhaltige Strategie im Umgang mit giftigen Abfallstoffen ist, ihre Produktion zu vermeiden."

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