Auf den ersten Blick ist der diesjährige Nobelpreis in Chemie für die Französin Emmanuelle Charpentier und die Amerikanerin Jennifer Doudna einfach nur großartig. Es ist das erste Mal, dass sich zwei Frauen allein einen naturwissenschaftlichen Nobelpreis teilen - und das zweifellos hochverdient. Das lässt hoffen, dass die Würdigung der vielen herausragenden Frauen in der Forschung allmählich das wird, was sie sein sollte: normal.
Dazu kommt, dass die Genschere Crispr-Cas anders als viele andere prämierte Entdeckungen kein verstaubtes Relikt der Forschungshistorie ist. Die Schere ist hochaktuell, gerade angesichts der vielen Anwendungen, die derzeit in medizinischer Therapie, Pflanzenzucht und experimenteller Forschung entwickelt und sogar schon eingesetzt werden. Und schließlich ist es ein Preis, der abermals zeigt, wie machtvoll Grundlagenforschung ist. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass die Erforschung eines bakteriellen Immunsystems die Lebenswissenschaften komplett verändern würde?
Die Methode lässt sich auch anwenden, um die menschliche Erblinie zu verändern
Und dennoch, der zweite Blick schmälert zwar nicht das Verdienst der Forscherinnen. Dennoch wirft er die Frage auf, ob dieser Preis, der kommen musste, zum jetzigen Zeitpunkt angezeigt ist. Erstens nimmt er praktisch ein Votum in einem seit Jahren zäh geführten Patentstreit vorweg, der zwischen Doudna und Charpentier einerseits und dem ebenfalls als Nobelkandidat gehandelten Feng Zhang vom Broad Institute in Massachusetts auf der anderen Seite ausgetragen wird. Zhang hatte kurz nach Charpentier und Doudna publiziert, liegt aber im juristischen Streit bislang vorn. Seine Gegnerinnen sind im Zugzwang. Viele Beobachter waren überzeugt, das Nobelpreiskomitee werde sich mit einer Würdigung zurückhalten, um unparteiisch zu bleiben. Das war schon mal ein Irrtum.
Nobelpreis in Chemie:Korrekturen im Code des Lebens
Endlich: Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier erhalten den Chemienobelpreis. Wie ihre Genschere Crispr-Cas9 die Lebenswissenschaften revolutioniert hat.
Doch es gibt noch einen wichtigeren Punkt: die Ethik. Die Methode lässt sich immerhin auch anwenden, um ganze Menschen und ihre Erblinie genetisch zu verändern. Im Herbst 2018 soll es in China bereits zur Geburt zweier Crispr-Babys gekommen sein, eine Grenzüberschreitung, die immer wieder passieren kann. Das Nobelkomitee ging darauf am Dienstag zunächst mit keinem Wort ein, auf die Frage einer Journalistin verwies man auf die Selbstverwaltung der Wissenschaft. Es gibt in der Tat einige Gremien, die derzeit unverbindliche Regeln aufstellen. Wer sich daran hält, ist eine andere Frage.
So gesehen ist die Verleihung für Crispr ein starkes Statement nicht nur für Frauen, Grundlagenforschung und Modernität. Sie ist auch ein klares Zeichen dafür, dass Ethik und eine gewisse Neutralität in Rechtsfragen nicht auf dem Radar des Preiskomitees sind. So verdient der Preis für diese zwei Frauen deshalb auch sein mag: Auf lange Sicht könnte die ignorante Haltung Stockholms gegenüber den weltlichen Konsequenzen von Forschung dem Preis schaden.