Stockholm:Chemie-Nobelpreis für drei Proteinforscher

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David Baker, Demis Hassabis and John Jumper. (Foto: Ill. Niklas Elmehed)

Sie haben berechnet, wie sich Eiweiße falten und knautschen. Warum die Arbeit von David Baker, Demis Hassabis und John Jumper für die Biochemie so wichtig ist.

Von Christina Berndt

Der Nobelpreis für Chemie geht in diesem Jahr zu einer Hälfte an den US-Amerikaner David Baker und zur anderen Hälfte an den Briten Demis Hassabis sowie den gebürtigen US-Amerikaner John Jumper. Das teilte die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Mittwochmittag in Stockholm mit. Baker, der an der University of Washington in seiner Geburtsstadt Seattle tätig ist, erhält den Preis für das rechnergestützte Design von Proteinen, Hassabis und Jumper haben bei Google DeepMind eine KI entwickelt, welche die komplexen Strukturen von Proteinen vorhersagen kann.

Proteine sind nicht nur Baustoffe des Lebens, sondern auch die chemischen Werkzeuge im Inneren von Lebewesen. „Das Leben könnte nicht ohne Proteine existieren“, sagte Heiner Linke, der Vorsitzende des Nobelkomitees für Chemie, währen der Bekanntgabe der diesjährigen Preisträger. „Dass wir jetzt Proteinstrukturen vorhersagen und unsere eigenen Proteine designen können, bedeutet den größten Nutzen für die Menschheit.“ So werden die Technologien bereits genutzt, um neue Arzneimittel zu entwickeln. „Das sind wirklich beeindruckende Leistungen, die da geehrt werden“, sagt auch Alexander Schug, der am Forschungszentrum Jülich als Experte für biomolekulare Simulation auf diesem Gebiet forscht. Die drei diesjährigen Preisträger seien ohne Frage seit Jahren führend in dem Feld.

Ähnlich wie der am Montag verkündete Medizin-Nobelpreis taucht somit auch der diesjährige Chemie-Nobelpreis tief ins Leben ein. „Wir haben heute einen großartigen Preis“, sagte Heiner Linke. „Proteine sind die Moleküle, die Leben ermöglichen.“ Sie seien die Baustoffe des Lebens, aber bildeten als Enzyme auch kleine Maschinen im Körper, die Prozesse umsetzten. Sie seien Pumpen, die im Gehirn die Arbeit von Nervenzellen ermöglichen, sie seien Antikörper für die Abwehr von Krankheiten. Sie seien Hormone, die Stoffwechselprozesse regulieren, sie seien Gerinnungsfaktoren und vieles mehr.

Damit Proteine arbeiten können, muss ihre Form aber exakt zu den Molekülen im Körper passen, mit denen sie interagieren. Das bedeutet, das Arzneimittel, die in diese Prozesse eingreifen, ebenfalls eine bestimmte Form benötigen, um wirksam zu sein. Wenn die Form der Proteine nicht stimmt, können Krankheiten entstehen. „Erkrankungen wie Alzheimer sind auf eine Fehlfaltung von Proteinen zurückzuführen“, sagt Alexander Schug. Auch deshalb kann die Kenntnis über die dreidimensionale Form der Werkzeuge des Lebens dabei helfen, neue Arzneimittel zu konstruieren.

Wie sich Proteine genau falten, daran forschten Wissenschaftler lange vergebens

Doch wie die Proteine genau zu ihrer Form finden, an dieser Frage bissen sich Forschende lange die Zähne aus. So winzig Proteine dem Menschen erscheinen: Nicht nur ihre Bedeutung für den Organismus ist riesig, sondern auch ihre Größe – jedenfalls im Vergleich zu anderen Molekülen. Sie bestehen mitunter aus 100 000 Atomen. Mindestens hundert, mitunter Tausende Aminosäuren werden aneinandergereiht, um ein Protein zu bilden. So zufällig und knäuelartig das Ergebnis aussieht: Allein die Reihenfolge der Aminosäuren bestimmt darüber, welche Form das Protein annimmt. Nur war das lange kaum nachzuvollziehen. Zu verzwickt sind die vielen Wechselwirkungen zwischen den Atomen.

Es brauchte viel Rechnerleistung und Hirnschmalz, bis die Entschlüsselung der Faltformel gelang, zunächst Baker zumindest teilweise mithilfe mathematischer Modelle und später Hassabis und Jumper mithilfe ihrer KI. Die Erfolge sind spektakulär: Während Arzneistoffe früher nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip entwickelt wurden, lassen sie sich dank ihrer Arbeit am Computer so designen, dass sie wahrscheinlich zu den Molekülen passen, deren Wirkung sie verändern sollen. „Das gelingt zwar noch nicht hundertprozentig, und natürlich müssen pharmazeutische Wirkstoffe am Ende immer noch in der klinischen Prüfung ihre Wirksamkeit beweisen, aber die KI erleichtert die Sache ungemein“, sagt Schug.

David Baker gelang der Durchbruch 2003, als ihm sein Programm Rosetta die Zeichenfolge DIQVQVNIDDNGKNFDYTYTVTTESELQKVLNELKDYIKKQGAKRVRISITARTKKEAEKFAAILIKVFAELGYNDINVTFDGDTVTVEGQLE ausspuckte. Er hatte es mit der dreidimensionalen Struktur eines Proteins gefüttert, das er sich ausgedacht hatte. Rosetta konnte ihm nun ziemlich genau sagen, welche Reihenfolge von Aminosäuren, die im Biochemiker-Sprech mit Buchstaben abgekürzt werden, dafür notwendig war. So musste der Code aussehen für das Protein, das Baker entworfen hatte.

In den folgenden Jahren wurden Bakers Entwürfe abenteuerlicher. Während er sich anfangs an den Vorgaben der Natur orientiert hatte, entwickelte er nun kreative Proteine für die Probleme, die er lösen wollte. Seine mathematischen Programme lieferten ihm die zugehörige Aminosäuresequenz dafür. „So öffnete er eine neue Welt von Proteinstrukturen“, schwärmte Heiner Link in Stockholm. Unter Bakers Kreationen sind Arzneistoffe, Impfstoffe, Nanomaterialien und winzige Sensoren.

Diese Protein-Struktur hat die KI Alpha Fold vorhergesagt. In den blauen Bereichen ist das Model vermutlich zuverlässig. Die gelben Bereiche sind weniger sicher. (Foto: -)

In die andere Richtung aber hat Rosetta „nur teilweise geklappt“, wie Alexander Schug sagt. Wenn das Programm also aus einer Aminosäuresequenz die dreidimensionale Struktur des Proteins vorhersagen sollte, war der Erfolg mäßig. Das jedoch gelang dem DeepMind-Team. Bis Hassabis sich mit der Frage beschäftigte, waren Wissenschaftler an dieser Vorhersage gescheitert. Nie erreichten ihre Versuche mehr als 40 Prozent Genauigkeit. Im Vergleich dazu schaffte die erste KI von Hassabis namens Alpha Fold 2018 mit etwa 60 Prozent Genauigkeit einen Quantensprung. Die neuere Version Alpha Fold 2, die 2020 in Betrieb ging, erreicht fast 90 Prozent. Die Version sei mittlerweile von mehr als zwei Millionen Menschen aus 190 Ländern genutzt worden, lobte die Königlich-Schwedische Akademie. „Unter Myriaden von wissenschaftlichen Anwendungen können Forschende jetzt besser Antibiotikaresistenzen verstehen und Enzyme kreieren, die Plastik zersetzen.“

Die Software zur Faltung von Proteinen können Wissenschaftler frei nutzen

Google hat das Potenzial der Technologie offenbar früh erkannt. Hassabis, der heute als CEO bei Google DeepMind arbeitet, hatte 2010 die Vorgängerfirma DeepMind Technologies gegründet, die Google 2014 für 400 Millionen Dollar kaufte. Hassabis ist 48 Jahre alt und damit deutlich jünger als die Laureaten des diesjährigen Medizin- und Physik-Nobelpreises. Jumper wurde sogar erst 1985 in Little Rock (Arkansas) geboren. „Es freut mich sehr, dass hier wirklich dem Willen von Alfred Nobel entsprochen wurde, die Preise zeitnah für die erbrachten Leistungen zu vergeben“, sagt Alexander Schug. Der Strukturbiologe hat selbst einmal Forschungsgeld von Google bekommen – zu seiner Überraschung. „Eigentlich ging das Geld von Google immer an Informatiker, aber vor einigen Jahren erhielt ich plötzlich Förderung für meine biologischen Vorhersagen.“ Kurz darauf wurde Googles Deal mit DeepMind bekannt.

Mittlerweile gibt es Alpha Fold 3. Immer noch können Wissenschaftler aus aller Welt die Software frei nutzen. „Aber der Quellcode hinter der Software ist nicht frei verfügbar“, beklagt Schug. „Wenn man dann die Proteinsequenz bekommt, ist das wie eine Blackbox, das wünscht man sich als Wissenschaftler anders.“ Womöglich habe das Nobelkomitee Alpha Fold 3 auch deshalb nicht erwähnt.

Die Chemie ist nach Medizin und Physik traditionell die dritte von sechs Preiskategorien, in denen Institutionen in Stockholm und Oslo die Preisträger der Nobelpreise bekanntgeben. Am Donnerstag folgt der Literaturnobelpreis, am Freitag der Friedensnobelpreis. Am Montag wird dann der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekannt gegeben, der als einzige der Auszeichnungen nicht auf das Testament des Preisstifters und Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833-1896) zurückgeht.

Die Nobelpreise sind 2024 mit elf Millionen schwedischen Kronen (knapp 970 000 Euro) pro Preiskategorie dotiert. Feierlich überreicht werden die Medaillen an Nobels Todestag, dem 10. Dezember.

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