Wenn Babyfläschchen oder Lebensmittelverpackungen aus Polykarbonat den Bestandteil Bisphenol A (BPA) in Speisen und Getränke absondern, ist das nach Auffassung der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA seit Anfang dieses Jahres nicht mehr so schlimm wie noch in der Zeit zuvor.
Die Behörde hob den gesetzlichen Grenzwert deutlich an. Seither gilt es als akzeptabel, täglich 50 Mikrogramm BPA pro Kilogramm Körpergewicht zu schlucken, vorher waren 10 Mikrogramm die Obergrenze. Der europäische Verbraucher kann diese Entscheidung indes nicht nachvollziehen, denn wesentliche Daten, auf die sich die EFSA stützt, werden der Öffentlichkeit bis heute vorenthalten.
Seit Jahren streiten Wissenschaftler darüber, wie gefährlich BPA ist. Die allgegenwärtige Chemikalie schädige Hirn und Hoden, störe die Embryonalentwicklung und führe zu Verhaltensänderungen, sagen die einen und verweisen auf entsprechende Untersuchungen an Ratten und Mäusen. Eine Untersuchung dänischer Wissenschaftler bestätigte den Verdacht, dass BPA auf menschliche Hormonrezeptoren ähnlich wirkt wie Östrogen.
Andere Forscher konnten bei Tierversuchen keine Schäden entdecken. Auffällig ist dabei, dass es stets öffentlich finanzierte Arbeiten waren, die Beeinträchtigungen durch BPA feststellten: 153 dieser Studien fanden negative Effekte schon bei niedrigen Konzentrationen, nur 14 fanden keine. Dagegen kamen alle 13 von der Industrie geförderten Studien zu dem Schluss, BPA sei eher harmlos.
Die Chemieindustrie finanzierte auch die Untersuchung, auf die sich die EFSA stützte, als sie befand, der Mensch vertrage fünfmal mehr BPA als bisher erlaubt. In einer umfangreichen Studie hatte das Team der Biologin Rochelle Tyl am amerikanischen Research Triangle Institute in North Carolina untersucht, wie BPA auf Mäuse wirkt.
Über zwei Generationen hin hätten sich keine negativen Effekte geringer BPA-Dosen gezeigt, berichteten die EFSA-Experten in ihrer Begründung für den heraufgesetzten Grenzwert. Ihnen lag offenbar ein Entwurf der Studie vor, veröffentlicht ist diese jedoch bislang nicht. Auf Anfrage erläuterte eine Sprecherin der EFSA: Die betreffende Studie sei vom European Chemicals Bureau (ECB) im Rahmen der Risikobewertung von bestehenden Chemikalien veranlasst worden, das Vorgehen mit dem ECB abgestimmt.
Es sei gängige Praxis, dass die EFSA-Gremien sich auf solche noch unveröffentlichten Entwürfe stützen. "Die Studie ist noch nicht publiziert, die Veröffentlichung wird aber in den nächsten Monaten erwartet", so die Sprecherin im Februar.
Eine Nachfrage Ende April führte nicht weiter: "Leider haben wir keine neuen Informationen darüber, wann die Studie veröffentlicht wird", hieß es bei der EFSA. Auch wusste man dort keinen Ansprechpartner beim ECB zu nennen, der darüber Auskunft geben könnte.
Eine direkte Anfrage beim ECB, das zur Gemeinsamen Forschungsstelle der EU-Kommission im italienischen Ispra gehört, blieb unbeantwortet. Eine Nachforschung Mitte Juni förderte dann Erstaunliches zutage: Die Risikobewertung (Risk Assessment Report) für BPA sei noch nicht abgeschlossen, erklärt der Leiter des ECB Steven Eisenreich. Auch habe das ECB die Studie über BPA nicht in Auftrag gegeben, sondern koordiniere nur die Diskussion und die technische Überprüfung des Risikoberichts.
Noch hätten sich die "Technical Committees on New and Existing Substances" nicht dazu geäußert, ferner müssten sich weitere Gruppen erst noch dazu erklären. Solange die Begutachtung noch nicht abgeschlossen ist, so Eisenreich, werde der Bericht nicht veröffentlicht.
Unfertige Studien
Zu unfertig sind die Studienergebnisse also, um sie zu veröffentlichen, aber immerhin fertig genug, um auf ihrer Grundlage Grenzwerte zu lockern. Denn Rochelle Tyls Untersuchung war nicht einfach nur eine von vielen Studien, die die EFSA auswertete, sondern ausschlaggebend für die Festsetzung des neuen Grenzwerts.
Wer genau diese Untersuchung finanzierte, bleibt dem europäischen Verbraucher ebenfalls verborgen. Immerhin teilte die EFSA auf Anfrage mit, das Geld stamme aus der Industrie. Die genaue Finanzquelle wurde auch vom ECB nicht genannt.
Doch in einem Berichtentwurf des Center for the Evaluation of Risks to Human Reproduction des US-Department of Health and Human Services wird der Sponsor für die Tyl-Studie genannt: Das American Plastics Council, ein Interessenverband der US-Kunststoffindustrie.
Die Bewertung von BPA durch Europäische Behörden und die Festlegung von Grenzwerten ist für den Verbraucher bei weitem nicht so glasklar wie die Fläschchen und Lebensmittelverpackungen, die aus diesem Stoff gefertigt werden.
Mit der "Europäischen Transparenzinitiative" hatte die EU-Kommission noch anderes versprochen. Jede moderne Verwaltung müsse sich durch "ein hohes Maß an Transparenz legitimieren", heißt es im "Grünbuch Europäische Transparenzinitiative", dass im Mai 2006 vorgelegt wurde.
Zu den angekündigten Schritten gehören unter anderem auch Vorschriften für die Veröffentlichung von Dokumenten. "Sie schaffen einen Rahmen für den Zugang zu unveröffentlichten Dokumenten der EU-Organe und Einrichtungen und die Bearbeitung von persönlichen Anfragen", heißt es weiter.
Zudem setzt sich die EU-Kommission in einer Mitteilung an das Europäische Parlament für eine "schnelle und weit gestreute Verbreitung von Forschungsergebnissen" ein. Beim European Chemicals Bureau ist dieser Appell offenbar noch nicht angekommen.