Die Newberry Library in Chicago bittet um Mithilfe: Wer immer Zeit und Lust hat und sich außerdem für Zauberei und Rätselhaftes aus dem 17. Jahrhundert interessiert, der möge helfen, Texte zu Magie und Religion zu entziffern. Manches muss auch aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt werden. Hilfreich wäre auch, für manche Stellen die ursprüngliche Quelle zu identifizieren.
Auf der Seite " Transcribing Faith" hat die Bibliothek drei handschriftlich verfasste Bücher veröffentlicht: Das erste ist das "Book of Magical Charms" mit Anleitungen zu magischen Praktiken. Wer etwa wissen möchte, wie man mit Geistern spricht und Tote beschwört, wie sich mit dem Zahn einer Leiche Zahnschmerz lindern lassen, wie man Engel dazu bringt, einem im Schlaf Geheimnisse zu verraten, oder wie man beim Würfeln und Wettschießen auf magische Weise gewinnt, kann hier nachlesen, wie das geht.
Wer die Sprüche und Symbole notiert hat, ist unbekannt. Nur dass es zwei unterschiedliche Personen waren, ist an den Handschriften zu erkennen. Außerem muss das Buch nach 1612 entstanden sein, da ein anderes Werk erwähnt wird, das aus diesem Jahr stammt. Aus einem beiligenden Brief geht hervor, dass das Manuskript ursprünglich einem Richard Grosvenor gehörte. Dessen Identität ist unklar - theoretisch denkbar wäre, dass es sich um den englischen Baronet, Sheriff und Bürgermeister von Chester handelte (gestorben 1645/46), dessen Sohn John später nach Massachussetts auswanderte.
Das zweite Werk ist das "Commonplace Book", in dem es um religiöse und moralische Themen geht, das aber auch rätselhafte historische Ereignisse beschreibt oder Zusammenhänge herstellt zwischen Philosophen, Göttern, Helden antiker Mythen, Sternen, Tieren und Farben. Das Buch weist völlig verschiedene Textformen auf, von Zitaten aus Werken früher christlicher Autoren bis zu knappen Notizen und einfachen Listen. Manches weist auf reale Ereignisse hin, anderes lässt sich nicht zuordnen. Was etwa hat es mit der Hochzeit eines bayerischen Herzogs - oder dessen Sohnes - auf sich, bei der ein Pferd in niederländischer Kleidung auftauchte?
Der erste Teil des Manuskripts stammt der Bibliothek zufolge möglicherweise bereits aus dem 16. Jahrhundert, weitere Teile wurden danach von verschiedenen, unbekannten Autoren hinzugefügt.
Im dritten Dokument, "Cases of Conscience Concerning Witchcraft" geht es um die berühmten Hexenprozesse von Salem in den Jahren 1692/93. Ausgehend von der angeblichen Besessenheit zweier junger Fauen durch den Teufel wurden damals etliche Frauen als Hexen beschuldigt, einige Männer als ihre Helfer. 20 Menschen wurden hingerichtet.
Das Manuskript ist offenbar Teil der Vorlage eines Buches des puritanischen Pfarrers Increase Mather, der die Gerichtsverhandlungen in Salem für den Gouverneur von Massachusetts Bay beobachtete. In seinem Buch " Cases of Conscience Concerning Evil Spirits" verteidigte er 1692 zwar das Vorgehen der Richter, kritisierte jedoch die Interpretation von Wahnvorstellungen und Träumen als Hinweise auf Hexerei.
In dem jetzt veröffentlichten Manuskript sind Anmerkungen und Korrekturen des Autors selbst enthalten - auch sein berühmter Satz: "Es ist besser, wenn zehn der Hexerei Verdächtigte entkommen können, als dass eine unschuldige Person verurteilt wird." ( Seite 60 des Manuskripts.)
Das "Transcribing Faith"-Projekt begleitet die Ausstellung der Newberry Library "Religious Change 1450 - 1700", die dokumentiert, wie die Reformation, der Buchdruck und die sich entwickelnde moderne Wissenschaft die Religion beeinflussten.
Bei den ins Netz gestellten Werken handele es sich um seltene Manuskripte, die Passagen enthalten könnten, die sonst nirgendwo zu finden sind, erklärt Christ Fletcher, Koordinator des Projekts, auf Atlas Obscura. Mittels "Crowdsourcing", also dem Einbinden von Laien, hofft die Bibliothek nun, neue Erkenntnisse über die Dokumente zu gewinnen.
Und es wird bereits intensiv daran gearbeitet. Beteiligt sind ernsthafte Hobby-Experten wie Joseph H. Peterson, der bereits mehrere Bücher über magische Literatur der vergangenen Jahrhunderte veröffentlicht hat. Für das " Book of Magical Charms" etwa hat er schon gezeigt, dass es Teile des sogenannten " Schlüssel des Salomon" (Clavicula Salomonis) enthält, ein vermutlich aus dem 14. oder 15. Jahrhundert stammendes Zauberbuch.
Solche Bücher entstanden seit der Renaissance aus dem Interesse europäischer Gelehrter an allem, was neues Wissen versprach. Wissenschaftler im Christentum lösten sich nach und nach vom mittelalterlichen Zwang, alle Erkenntnisse über die Natur und ihre Gesetze im Sinne der christlichen Religion zu interpretieren.
Sie übersetzten und studierten nun auch zuvor verdrängte Werke antiker "heidnischer" Philosophen wie Aristoteles, die sie in den Bibliotheken jener Städte entdeckten, die den europäischen "Mauren" im Zuge der Rückeroberung Spaniens durch die Christen (Reconquista) abgenommen worden waren.
Zugleich aber hielt sich - auch unter den Gelehrten - hartnäckig der Glaube an das Übersinnliche, die Existenz von Hexen, an Dämonen, die Wirkung von Zaubersprüchen und den Einfluss der Planeten, Sterne und Tierkreiszeichen. Schließlich predigte auch die Kirche, dass sich verstorbene Heilige um Schutz und Hilfe bitten lassen. Da lag die Idee nahe, auch Dämonen kontrollieren und Tote beschwören zu wollen. Immerhin versprach so etwas ungeheuren Erkenntnisgewinn - und Macht. Vor allem die Werke arabischer Alchemisten und Astronomen und die jüdische Kabbala stießen auf großes Interesse.
Sowohl die katholische Kirche wie die Protestanten lehnten okkulte Praktiken ab, wie sie Zauberbücher lehrten. Insgeheim aber wurden die Werke kopiert und verbreitet. Selbst der Theologe Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, einer der wichtigsten Gelehrten des 15. und 16. Jahrhunderts, bemühte sich in seinem Werk "De occulta philosophia", Religion und verschiedene Formen von Zauberei in einem auch von der Kirche akzeptablen System zu vereinen.
Ein weiterer berühmter Theologe und zugleich "Magier" war John Dee, Hofastrologe und -mathematiker von Königin Elizabeth I. von England. Selbst der Physiker Isaac Newton war überzeugter Alchemist: Bis Ende des 17. Jahrhunderts suchte er nach dem Stein der Weisen, mit dem sich unedle Metalle in Gold verwandeln lassen sollten.
Die Veranstalter der Ausstellung in Chicago erhoffen sich von ihrem Projekt nicht nur, dass enthusiastische Hobby-Forscher ihnen neue Informationen über die Manuskripte verschaffen. Es geht ihnen auch darum, den heute Lebenden die Menschen des 17. Jahrhunderts näher zu bringen. So sagte Fletcher der Website Atlas Obscura, es gehe darum, "verständlich zu machen, wie es war, die wirklich enormen Veränderungen damals zu erleben, die viel Angst und viel Aufregung verursacht haben".
Natürlich dient die Aktion auch der Werbung - aber auf äußerst originelle Art. Jeder, der sich berufen fühlt, kann zu den einzelnen Seiten der Manuskripte eine eigene Abschrift und Übersetzung vorschlagen, entsprechende Texte anderer korrigieren oder kommentieren. Die Angaben werden dann von der Bibliothek überprüft und veröffentlicht. Die Seite funktioniert also ähnlich wie die Online-Enzyklopädie Wikipedia.