Als der Sozialpsychologe Harald Welzer für eine Studie einen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges befragte, wunderte er sich. Dabei erzählte der ehemalige Wehrmachtssoldat detailliert und plastisch über eine Begebenheit, die er als Flakhelfer gemeinsam mit ein paar Kameraden erlebt hätte: Sie hätten sich in einem Schützengraben verborgen, als plötzlich ein US-Panzer auf sie zugesteuert sei.
Ein amerikanischer Soldat habe jenseits der Bahnschienen gestanden und den Jugendlichen etwas zugerufen; daraufhin hätte er wie panisch auf den Panzer eingeschossen. Klingt eigentlich plausibel, auch nach den üblichen Kriterien der kriminologischen Glaubwürdigkeitsforschung.
Die Sache hat nur einen Haken: In dem berühmten und damals viel gesehenen Kriegsfilm "Die Brücke" des Regisseurs Bernhard Wicki findet sich eine fast identische Szene. Zufall?
Für die moderne Gedächtnisforschung ist diese Anekdote eher ein Beispiel für sogenannte Quellenamnesie: Historische Zeitzeugen neigen dazu, ihre eigenen Erinnerungen mit später rezipierten Medienberichten und fiktiven Darstellungen in Romanen und Kinofilmen zu vermengen - und die so erzeugte Mischung für einen eigenen Gedächtnisinhalt zu halten.
Man soll solche Erzählungen deshalb auch nicht als Lügen werten, kommentiert Welzer. "Die Erzähler verbinden hier ihre Autobiographie mit spektakulären und akzeptierten Erzählmustern und peppen so ihre Lebensgeschichte auf, ohne das selbst zu bemerken."
Es gibt mittlerweile Historiker wie den Mediävisten Johannes Fried von der Universität Frankfurt, die wegen solcher Phänomene sogar eine neurobiologisch fundierte Quellenkritik in den Geschichtswissenschaften fordern.
Wichtiger aber sind diese verzerrenden Prozesse der Gedächtnisbildung für strafrechtlich relevante Erinnerungen. So zeigt sich derzeit wieder, welchen Schaden fahrlässige Metaphern über das Geschehen im Kopf in der öffentlichen Wahrnehmung anrichten können: Da möchte das Landgericht München I klären, was denn nun wirklich am 12. September 2009 auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofs Solln geschehen ist, als der 50-jährige Dominik Brunner starb.
Die Zeugen widersprechen sich aufs heftigste und sind doch womöglich ganz aufrichtig dabei. Wundern kann sich darüber nur, wer das menschliche Gedächtnis für eine Art biologische Computer-Festplatte hält, die halt speichert, was Augen und Ohren an Informationen heranschaffen.
Dieses Bild ist eine falsche Analogie. Zahlreiche Studien und Experimente der letzten Jahre belegen, dass gerade das autobiografische Gedächtnis eben nicht in Stein gemeißelt ist. Vielmehr scheint es so zu sein, dass sich die Gedächtnisinhalte bei jedem Abruf verflüssigen. Sie stehen dann bereit, auf dass ihr Besitzer sie redigiert, filtert, teilweise löscht oder erweitert und umschreibt, um sie dann in der veränderten Form neu abzuspeichern, so wie einen Text, an dem man arbeitet.
Dabei ist das Gehirn nicht daran interessiert, das Geschehene möglichst exakt zu konservieren. Das Gedächtnis ist primär kein Archiv des vergangenen Lebens, sondern ein willfähriges Instrument zur Bewältigung der Gegenwart. Es versucht, das Selbstbild zu stärken und den Zufälligkeiten der eigenen Lebensgeschichte im Rückblick Sinn und Form zu geben: Das ist der Grund, wieso der Sommerurlaub mit jedem Erzählen schöner wird und die geangelten Fische in der Erinnerung selbst nach dem Verzehr weiter wachsen.
Dieser automatische Selbstschutzprozess könnte auch erklären, wieso etwa der allzu passive Zeuge einer Gewalttat das beobachtete Geschehen im Nachhinein subjektiv aufrichtig als nicht so dramatisch schildert - nämlich um unbewusst sein Nichtstun zu rechtfertigen.
Die Psychologin Elizabeth Loftus von der University of California in Irvine formuliert diesen für die Einschätzung von Zeugenaussagen entscheidenden Sachverhalt so: "Eines sollten wir uns klarmachen - unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren."
Dabei hat Loftus nachgewiesen, dass es nicht nur um retrospektiven Selbstbetrug geht, sondern dass sich das Gedächtnis auch von außen relativ leicht manipulieren lässt: So gelang es ihr etwa, einem 14-jährigen Jugendlichen namens Chris weiszumachen, er habe sich als Fünfjähriger in der University City Shopping Mall der Stadt Spokane im US-Bundesstaat Washington verirrt und sei dann von einem Mann aufgegriffen worden.
Es genügte, dass sie diese Lügengeschichte in einen ansonsten wahren Bericht aus seiner Kindheit schummelte und ihm dann zu lesen gab. Als sie ihn in den folgenden Wochen und Tagen wieder befragte, erzählte Chris immer mehr Einzelheiten über diese von Loftus erfundene Begegnung: Er sei in einem Spielzeugladen verlorengegangen; der Mann, der ihn fand, habe ein blaues Flanellhemd getragen, er war eher älter, kahl am Kopf, und er trug eine Brille.
Noch skurriler klingen Studien, bei denen es Loftus mit Hilfe manipulierter Fotos gelang, gut einem Drittel der Versuchspersonen einzureden, sie seien als Kind bei einem Besuch in Disneyland Bugs Bunny begegnet.
Ein Student berichtete sogar, der graue Plüschhase habe ihm die Hand geschüttelt und eine Karotte gezeigt. Das aber konnte mit Sicherheit gar nicht gewesen sein, weil dieser Trickfilm-Hase schon immer ein Geschöpf des konkurrierenden Unternehmens Warner Brothers ist.
Solche Studien sind mehr als kuriose Fingerübungen. Sie haben vielmehr entscheidend dazu beigetragen, dass etwa die Zeugenaussagen von Kindern in Missbrauchsprozessen heute sehr viel skeptischer betrachtet werden als früher.
Und dank ihnen ahnt man auch, welch schwierige Aufgabe das Landgericht I in München zu bewältigen hat. Solange die Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht systematisch im Strafprozess berücksichtigt werden, bleibt daher nur eine ernüchternde Einsicht: Manchmal lügt nicht der Zeuge, sondern sein Gedächtnis.