Süddeutsche Zeitung

Blutige Beobachtung:Kindsmorde im Reich der Affen

Baby-Morde gibt es im Tierreich immer wieder - doch bei Schimpansen kannte man bislang vor allem Männchen als Täter. Jetzt berichten Forscher von Weibchen-Gangs, die den Nachwuchs anderer Mütter töten.

Marcus Anhäuser

Die Schimpansen-Mutter hatte keine Chance. Sie kauerte über ihrem Baby, um es mit ihrem Rücken gegen die Schläge und das Zerren der Affen-Meute zu schützen. Sie blutete bereits im Genitalbereich. Nach zehn Minuten brach ihre Abwehr zusammen.

Die sechs Häscher packten das jammernde Jungtier, stritten sich unter großem Geschrei darum, bis schließlich eines der Tiere das eine Woche alte Baby packte und mit einem Biss zwischen Kopf und Nacken tötete. Das Muttertier wurde nie mehr gesehen.

Baby-Morde unter Artgenossen beobachten Schimpansenforscher selten aber regelmäßig. Doch dieser Überfall im Budongo Wald im ostafrikanischen Uganda ist eine ganz besondere Seltenheit. Denn die Mörderbande war eine Frauengang. Fünf trugen selbst noch ihr Jungtier unter dem Arm. ^

Forscher hin- und hergerissen

Affenforscherin Katie Slocombe von der schottischen St. Andrews University, die die Szene zusammen mit einem Kollegen beobachtet hatte, war hin- und hergerissen. "Ich war verstört über die Gewalt dieser sonst so liebevollen Tiere. Zugleich fühlte ich mich privilegiert, dass ich eine so seltene Beobachtung machen konnte." (Hier finden Sie ein Video von einem Angriff eines Weibchen auf ein Junges - danach wird es selbst von zwei Männchen attackiert.)

Normalerweise ist Kindstötung Männersache bei den nächsten Verwandten des Menschen. Die Weibchen gelten eigentlich als die friedfertigen, zurückgezogenen Gruppenmitglieder, die auch untereinander kaum konkurrieren.

Die verletzte Mutter schaute machtlos zu

Die verletzte Mutter saß daneben und schaute dem Spektakel machtlos zu. Nähere Untersuchungen offenbarten eine Bisswunde am Kopf des Jungtieres wie schon beim ersten Opfer. Im dritten Fall fanden die Forscher nur noch einzelne Körperteile eines massakrierten Neugeborenen, nachdem sie durch Schreie des Muttertieres aufgeschreckt worden waren. "Auch hier konnten keine Männchen beteiligt gewesen sein, weil meine Kollegin Melissa Emmery Thompson alle Männchen während des Angriffs 800 Meter weit entfernt beobachtet hatte", berichtet Slocombe.

Für die Forscher fügen sich die drei Vorfälle zu einem Muster zusammen, so wenige es auch sind: "Diese drei Attacken innerhalb von 28 Monaten sind weder isolierte Fälle pathologischer Individuen, noch ein bloßes Beiprodukt männlicher Aggression."

Stattdessen scheint gemeinschaftliche Kindstötung Teil des weiblichen Verhaltensrepertoires zu sein. "Die Kopfbisse zeigen, dass dies absichtliche Tötungen und keine Unfälle waren", sagt Slocombe. Und es sind nicht die ersten Jungaffen, die durch den Biss einer Schimpansin sterben.

Schimpansenmännchen dagegen sind bekannt für ihre Aggression und Gewalt. Sie ziehen in Gruppen los und töten erwachsene Tiere, und auch die Jungen benachbarter Clans. Ihren Willen setzen die hochrangigen Paschas auch innerhalb ihrer Gruppe aggressiv durch.

Bei dem von Slocombe beobachteten Zwischenfall waren auch drei Männchen beteiligt, jedoch nur als hysterische Zeugen: "Sie schrieen, trommelten und sprangen herum, beteiligten sich aber nicht am Angriff der sechs Weibchen", sagt Slocombe, die ihre Beobachtungen auf Video aufgenommen und im Fachblatt Current Biology beschrieben hat (Bd. 17, S. 356, 2007).

Die Primatologen berichten über zwei weitere Vorfälle in der Sonso-Schimpansengemeinschaft, die sie nicht selbst beobachtet haben aber rekonstruieren konnten. "In einem Fall fanden wir zwei Weibchen, die sich laut schreiend um den toten Körper eines einwöchigen Babys stritten", erzählt Slocombe.

Jane Goodall, Pionierin der Schimpansenforschung, hatte Mitte der siebziger Jahre erstmals von einem fatalen Weibchenpaar berichtet: Die Schimpansin Passion und ihre Tochter Pom. Als "barbarische Mörderin" hatte Goodall Passion beschrieben.

Innerhalb von zwei Jahren hatte das Killerpärchen drei Jungtiere getötet, und die Wissenschaftlerin ratlos und verstört zurück gelassen: Nur Langzeitbeobachtungen könnten zeigen, ob es sich um ein krankhaftes oder ein evolutionär vorteilhaftes Verhalten handle, schrieb Goodall. In den neunziger Jahren wurden dann erneut Hinweise für die strategische Killermentalität unter Schimpansenweibchen im ostafrikanischen Gombe Nationalpark gefunden.

Infantizid bei Tieren wurde bis in die siebziger Jahre als grundsätzlich krankhaftes, abnormales Verhalten betrachtet, weil es der Theorie der Arterhaltung widersprach. Im Lichte der Soziobiologie und ihrer Sichtweise auf das egoistische Lebewesen konnte es aber durchaus sinnvoll sein, die Jungtiere von Artgenossen zu töten.

Kindsmord galt ursprünglich als typisch männliches Verhalten

"Gründe für dieses Verhalten gibt es viele. Fremde Jungtiere werden getötet als zusätzliche Nahrungsquelle oder um ein Nest zu übernehmen", sagt Luis Ebensperger von der Universidad Catolica de Chile. Die Männchen von Löwen oder Hanuman-Languren - eine Primatenart - versuchen, Jungtiere des Vorgängers zu töten, um selbst schneller Nachwuchs zeugen zu können.

Kindsmord wird meist als typisch männliches Verhalten betrachtet, aber es gibt auch Arten, bei denen die Weibchen die Jungen ihrer Artgenossinnen beseitigen: "Bei Wölfen, Zwergmangusten, Dingos oder Wildhunden töten ranghohe Weibchen den Nachwuchs untergebener Rudelmitglieder", sagt Ebensperger.

Aggressions-Auslöser bei den Sonso-Schimpansen war nach Meinung von Slocombe und ihren Kollegen der Kampf um Ressourcen. Es war eng geworden im Reich der Sonso und es gab einen enormen Frauenüberschuss. Seit dem Jahr 2001 waren 13 neue Weibchen eingewandert, zum Teil mit Jungtieren.

Die Größe der Sonso-Gemeinschaft war innerhalb von zehn Jahren von 42 auf 77 Tiere angestiegen, anfangs kam auf ein Männchen ein Weibchen, heute kommen auf ein Männchen drei Weibchen. Trotz der Bevölkerungsexplosion konnte die Gruppe ihren Lebensraum nicht ausweiten, weil es zu wenige ausgewachsene Affen-Männer gab.

Unprofessionelle Jane Goodall

Damit fehlte auch der Schutz für Weibchen vor den aggressiven Übergriffen der Geschlechtsgenossinnen. "Der Mangel an Platz führte zu einem Kampf um die Futterbereiche zwischen den Neuankömmlingen und den ansässigen hochrangigen Weibchen", sagt Slocombe. "Auch das Alpha-Weibchen Passion und ihre Tochter Pom begannen ihren Todeszug, als Pom erwachsen wurde und ihr eigenes Futtergebiet aufbauen musste", sagt Anthropologe Martin Muller von der Boston University.

Das Killerpärchen Passion und Pom hätte noch mehr Jungtiere getötet, doch Jane Goodall hatte dem Morden nicht mehr länger zusehen wollen: "Sie griff in drei Fällen ein, schrie und warf Stöcke und Steine nach den beiden", sagt Martin Muller.

Katie Slocombe kann die unprofessionelle Reaktion gut verstehen: "Uns taten die Schimpansenmutter und ihr Kleines auch leid, das ist ganz natürlich. Aber einzugreifen war keine Option." Es wäre auch einfach zu gefährlich gewesen sich mit sechs wild gewordenen Schimpansendamen im Blutrausch anzulegen.

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Quelle:
SZ vom 15.5.2007
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