Blut für das "Ekeltheater":Ein ganz besonders künstlicher Saft

Begonnen hat alles in einem ehemaligen Schlachthof. Wie eine Berliner Firma seit Jahrzehnten Theaterblut und andere künstliche Körperflüssigkeiten herstellt.

Kathrin Burger

Es war eine Orgie in Rot und Braun - Theaterkritiker und Publikum waren nicht gerade amüsiert.

Mit seinem "Macbeth" verankerte der Regisseur Jürgen Gosch 2006 das Wort "Ekeltheater" in den deutschen Feuilletons.

Erst in Düsseldorf, dann beim Theatertreffen in Berlin, schütteten seine nackten Schauspieler einander eimerweise Blut über die Köpfe und hockten sich auf der Bühne zur Notdurft hin.

Andere Inszenierungen nutzten weitere Körperflüssigkeiten. Protagonisten rotzten auf den Boden, pinkelten und onanierten sich an, wälzten sich in Exkrementen, erbrachen sich schließlich auf der Bühne.

Eimerweise Chemikalien für blutrünstige Regisseure

Auch der 86-Jährige Arnold Langer findet solche Inszenierungen "ziemlich übertrieben". Er achtet mehr auf den Text, auf ausgefeilte Dialoge, wenn er mehrmals pro Jahr Theater oder Oper besucht, er liebt Dürrenmatt.

Dabei könnte er sich an den Blut-und-Hoden-Aufführungen rein professionell erfreuen, an Umsatzzahlen denken oder an Glycerin, Latex, Wachs, E422 und Erdbeeraroma. Schließlich stellt seine Firma die künstlichen Körperflüssigkeiten her, die das angebliche "Ekeltheater" ausmachten.

Langers Firma Kryolan, ansässig im Berliner Stadtteil Wedding, ist seit 1945 im Geschäft. Die blaue Maske, das Firmenlogo am Tor in der Papierstraße, grinst Besuchern schon von weitem entgegen. Aus einem Ein-Mann-Betrieb ist mit den Jahren ein weltweit tätiges Familienunternehmen mit 220 Mitarbeitern geworden. Es beliefert 4500 Kunden aus Hollywood, Bollywood und Schauspielhäusern von München bis Rio de Janeiro. Der Produkt-Katalog umfasst nahezu 14.000 Artikel.

90 Prozent des Angebots an Schminke, Haarfarbe, Bartkleber, Kunstblut werden von seiner Firma entwickelt und hergestellt. Dazu zählt auch Camouflage zur Abdeckung von Unreinheiten der Haut und Verbrennungen. Darum kaufen auch Hautärzte und das Militär bei Kryolan.

Begonnen hatte alles in einem ehemaligen Schlachthof in Reinickendorf, wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Chemiker Langer gründete hier seine Firma und fing an, Theaterschminke herzustellen.

Gelernt bei der Ufa in Babelsberg

Die Rezepte hatte er bei einem Praktikum bei der Ufa in Babelsberg gelernt, wo 1939 mit Marika Rökk der Film "Frauen sind bessere Diplomaten" gedreht wurde. Farbstoffe wie Titandioxid, Eisenoxidgelb oder -braun stammten von Agfa.

Bei der Kali-Chemie erstand Langer Paraffin-Öle. Er kaufte Restbestände an Gläsern und Dosen bei verschiedenen Firmen auf, deren Namen oft noch auf dem Etikett prangten, als er sie bereits mit Kryolan-Schminke befüllt und zum Verkauf angeboten hatte. "Irgendwie musste man einfach anfangen", erinnert er sich heute.

Dabei kam ihm entgegen, dass niemand große Spezialgeräte braucht, um Schminke zusammen zu rühren. Auch für künstliches Blut, mal dünn-, mal dickflüssig, für nachgebildeten Eiter, Kot oder einen Ganzkörperüberzug aus Schokolade reichen Tiegel, Gasbrenner, Rührstab und ein Waschbecken, in dem getestet wird, wie gut sich Neuentwicklungen auswaschen lassen. Daher kommt am Labortisch von Kryolan eher ein Hobbythek- als ein Hightech-Gefühl auf.

Ein ganz besonders künstlicher Saft

Langer geht auch heute noch gern im Laborkittel durch die Büroräume seiner Firma. Doch die Arbeit im Labor zur Entwicklung neuer Produkte hat er längst dem aus Iran stammenden Yousef Atapour übertragen. Der 53-Jährige Lebensmittelchemiker strahlt eine ähnliche Gelassenheit aus wie sein grauhaariger Chef.

Und auch Atapour besucht nur selten die fertigen Produktionen, deren Aussehen er täglich zu verbessern versucht. Nur zwei Filme, für die Kryolan Special-Effekt-Produkte geliefert hat und die er gesehen hat, fallen ihm ein: "Der Name der Rose" und "Die weiße Massai".

Neue Schminke testen Atapour und Langer gerne bei den Freiwilligen, die sie unter den Angestellten im Bürotrakt ihrer Firma finden. Gutachten zur Hautverträglichkeit seiner Produkte lässt Kryolan bei der Berliner Charité anfertigen. "Schminke muss absolut verträglich sein, schließlich tragen Schauspieler oft ein Leben lang solche Produkte auf", erläutert Langer.

Pfefferminze und Erdbeeraroma für Erbrochenes

Bei Kot, Eiter und Erbrochenem hingegen muss der Labor-Leiter selber das Versuchskaninchen spielen. Hier sind ein starker Magen, aber auch Erfahrung und Kreativität gefragt.

Die Requisitenartikel müssen schließlich in Farbe und Konsistenz dem Original gleichen. Andererseits dürfen sie nicht schlecht riechen oder schmecken.

"In Kapsel-Blut mischen wir daher Erdbeeraroma", verrät Atapour. Als Alternative hat er auch schon Pfefferminztee gekocht und damit das Kunstblut gewürzt. "Erdbeere mag ja auch nicht jeder."

Auch künstliches Erbrochenes wird daher mit Zucker versüßt, damit der Darsteller die Mixtur in den Mund nehmen kann, ohne dass ihm dabei wirklich schlecht wird. Die Rezeptur sieht dann etwa so aus: Man nehme ein Verdickungsmittel auf Zellulosebasis, ein durchsichtiges Gel, das geruchsfrei ist. Desweiteren Wachse und Zuckersirup, um den zähflüssigen Effekt zu erzeugen. Schließlich Wasser, Farbe und Aromen.

Blut basiert auf einem Carbonol, einem essbaren, kohlehydrathaltigen Gel, das dem Grundstoff für das Erbrochene ähnelt. Dazu geben die Kryolan-Köche Glycerin sowie E422, ein Feuchthaltemittel, damit das Theater-Blut wie echtes nicht austrocknet. Die zugesetzte Farbmenge entscheidet schließlich, ob es sich um hellrotes Blut aus frischen, offenen Wunden handelt, oder um dunkles Blut, das bereits geronnen ist. Eine Latex-Zugabe macht das Blut zum "Krustenblut".

Produziert werden die Stoffe in einer Halle nebenan. Walzenstühle verwandeln hier Farbpigmente zu einer teigähnlichen Masse, überdimensionierte Rührgeräte mit Rotor mischen die anderen Zutaten unter. An einer Wand stapeln sich kleine Eimer mit Aufschriften wie: "Indigotinlack" und "Tubencreme Basis". Langer hebt bei einigen blauen Fässern die Deckel an. Es riecht nach Faschingsschminke, der Duft erinnert an die Kindertage, in denen man sich wie Pierrot, der Clown, das Gesicht weiß malte.

Ein ganz besonders künstlicher Saft

Langer wirkt nicht wie ein Mensch, der seine Arbeit jemals aufgeben würde. Dafür hätte er in den 21 Jahren, die er das gesetzlichen Rentenalter jetzt bereits hinter sich gelassen hat, schon genügend Gelegenheiten gehabt. Er arbeitet für die Menschen da draußen an den Theatern, behandelt ihre Wehwehchen und empfindet sich als Sorgenonkel. Dieser Branche steht er nahe - nach einen Leben mit den Produkten, mit denen die Maskenbildner und Schauspieler ihre eindrucksvollsten Effekte erzielen.

Sechs Liter Blut pro Aufführung

Die Lust am Blutrünstigen ist Langer daher gut bekannt. Bereits in den 1970er-Jahren orderte Peter Stein, damals Regisseur an der Berliner Schaubühne, für sein Antikenprojekt sechs Liter Blut pro Aufführung. "SP4A, das war damals unsere Laborbezeichnung für das neu entwickelte Requisitenblut, das können sie heute noch kaufen. Ist für 20 Euro pro Liter das billigste Theaterblut bei uns", sagt Langer mit der rauen Stimme des Alters und einer Berliner Sprachfärbung.

Obwohl er daran verdient, mag er sich an der Debatte der Theaterkritiker um den massiven Einsatz seiner Produkte nicht beteiligen. Nacktheit, Blut, Schweiß und Sperma seien Zeichen für den Schmerz und das Leid der Menschen, allerdings ein leeres, klagt eine Fraktion der Kritiker. Echte Gefühle von echten Schauspielern sehe man immer seltener.

Andere halten dagegen: "Oft ist der Stoff, etwa bei Shakespeare, an sich schon sehr grausam", sagt Thomas Koch von der bayerischen Theaterakademie. "Eine Inszenierung mit viel Blut ist eine Art der Interpretation, die sich auch an die moderne, mediale Rezeption des Publikums anlehnt."

Für Langer und seine Firma zählt nur eines: Was auch immer einen Regisseur bewegt, Exkremente flaschenweise in der Großpackung zu bestellen - Kryolan versucht den Wunsch zu erfüllen. Die nötigen Chemikalien stehen im Labor schon bereit.

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