SZ: Herr Vilcinskas, Sie erforschen seit Jahren Insekten. Das sind nicht gerade die beliebtesten Tiere.
Andreas Vilcinskas: Nein. Erstens sind sie unsere größten Nahrungskonkurrenten und zweitens sind sie die wichtigsten Überträger von Infektionskrankheiten, von der Pest bis zur Malaria. Aber auf der anderen Seite sind sie auch enorm hilfreich. Als Bestäuber etwa sind Insekten für uns von unermesslichem Wert. Und sie liefern uns seit über 5000 Jahren Honig und Seife.
Und gibt es bei diesen Tieren noch mehr zu holen?
Insekten sind die erfolgreichste Tiergruppe auf der Erde. Es gibt über eine Million beschriebene Arten, mehr als jede zweite Art überhaupt ist ein Insekt. Dafür gibt es natürlich verschiedene Gründe, aber unter anderem haben Insekten gelernt, sehr erfolgreich Mikroorganismen zu bekämpfen. Sonst könnten sie nicht auf Kadavern oder in Jauchegruben überleben. Und sie haben es gelernt, die unterschiedlichsten Substanzen als Nahrung zu erschließen: Haut, Haare, Holz, Styropor. Es gibt kaum etwas, das nicht irgendein Insekt fressen kann. Ich sage immer, von Insekten lernen, heißt siegen lernen.
Sie hoffen, neue Medikamente zu finden oder neue Wirkstoffe, die in der Industrie eingesetzt werden können.
Wir entwickeln da zurzeit ein neues Forschungsfeld: die Insektenbiotechnologie. In Korea, Japan und China boomt das schon länger. China hat zum Beispiel ein Riesenprogramm aufgelegt. Da wird das Erbgut von 5000 Insektenarten entschlüsselt, ganze Turnhallen stehen voll mit Sequenziermaschinen. Denn wenn Sie die Gene gefunden haben, die für ein bestimmtes Enzym codieren . . .
Also ein Eiweiß, das bestimmte Aufgaben erfüllt . . .
Dann können Sie das patentieren. Ich bin allerdings kein Fan dieses Ansatzes.
Warum nicht?
Man findet dann immer nur die Eiweiße, die denen ähneln, die man schon kennt. Ich versuche lieber, ganz neue Stoffe zu finden, indem ich die Insekten gezielt untersuche.
Sie haben sich zum Beispiel Maden angeschaut.
Im amerikanischen Bürgerkrieg, aber auch bei den Feldzügen von Napoleon hat man festgestellt, dass die Soldaten, die zwischen den Fronten liegen geblieben sind und tagelang nicht versorgt werden konnten, eher überlebt haben, als jene, die direkt ins Lazarett geschleppt wurden. Das hat offenbar daran gelegen, dass ihre Wunden voller Maden waren. Die Tiere produzieren Substanzen, die Wundinfektionen heilen können.
Wie suchen Sie diese Stoffe?
Wir sind davon überzeugt, dass Insekten ihre besten Waffen nur einsetzen, wenn sie die wirklich brauchen. Wir injizieren große Mengen Bakterien oder Pilze in ein Insekt. Das löst eine Immunantwort in dem Tier aus, und es bildet Abwehrmoleküle. Wir schauen uns also alle Gene an, die in dieser Situation abgelesen werden, und dann sehen wir zum Beispiel: Aha, da ist ja ein Gen, das sehr hochreguliert wird, aber das keine bekannte Funktion hat. Bei so einem Gen können wir dann schauen, ob das Eiweiß, das es produziert, gegen Bakterien wirkt. In den Maden einer Schmeißfliege haben wir 47 Gene gefunden, die interessant sind. Wir haben uns dann auf die 23 konzentriert, die klein sind und die wir künstlich herstellen können.
Und wie geht es mit denen weiter?
Wir können jetzt nicht 23 verschiedene Eiweiße für eine Salbe herstellen. Das ist von der Zulassung und der Herstellung her zu kompliziert. Wir versuchen, zwei zu finden, die besonders gut zusammen wirken. Auch eine Wundmade kann ja nur winzige Mengen dieser sogenannten Peptide produzieren und muss trotzdem die ganze Wunde desinfizieren. Das heißt, die Evolution hat das so optimiert, dass manche Peptide zusammen nicht nur doppelt so effektiv sind wie allein, sondern 200-mal. Wir haben solche Paare identifiziert, die wirklich toll miteinander wirken. Die werden jetzt in großen Mengen synthetisch hergestellt. Dann müssen wir an bestimmten Modellen, zum Beispiel am Schweineohr, zeigen, dass so eine Salbe wirklich funktioniert.
Peptide werden im Körper schnell abgebaut. Sie können das also für Salben nutzen, aber es wird nie ein Antibiotikum werden, das man einn ehmen kann.
Wir wollen ja nicht gleich Penicillin ersetzen. Aber schon Salben und Pflaster sind in Deutschland ein Zwei-Milliarden-Euro-Markt. Wenn wir jetzt erst einmal zeigen, dass wir Nischenprodukte entwickeln können, dann ergibt sich der Rest von selbst. Dann kann man zum Beispiel versuchen, die dreidimensionale Struktur zu entschlüsseln und diese nachzubauen, um einen neuen Wirkstoff zu entwickeln.
Sie untersuchen auch andere Tiere.
Da interessiert uns zum Beispiel die Frage, wieso die Kleidermotte Kleider fressen kann, aber Hundertausende andere Schmetterlinge es nicht können. Da muss es Enzyme geben, die Keratine, Wolle, Federn und Ähnliches zersetzen. Dafür gibt es einen Bedarf. Solche Enzyme werden etwa benötigt, um Leder so zu bearbeiten, dass es gerade weich genug ist. Außerdem gibt es Überlegungen, ob man so zum Beispiel aus Altkleidern Biosprit gewinnen kann.
Und haben Sie die Stoffe schon identifiziert?
Es kann auch sein, dass die Motte das nicht selbst macht, sondern dass Mikroorganismen in ihrem Darm diese Enzyme produzieren. Wir untersuchen das gerade.
Gibt es andere spannende Tiere, die Sie analysiert haben?
Zurzeit arbeiten wir auch am Totengräber. Dieser Käfer ortet die Kadaver von kleinen Säugern oder Vögeln über Kilometer hinweg und vergräbt diese dann. Normalerweise würden sie im Boden verwesen, aber der Käfer kann sie chemisch konservieren, obwohl der Kadaver hundertmal größer ist als er selbst. Im Speichel des Totengräbers haben wir 34 Substanzen gefunden, die eine antimikrobielle Wirkung haben. Das Spannende war nun, dass mehrere Moleküle dabei waren, die auch Menschen in der Lebensmittelkonservierung einsetzen, Phenylpropionsäure etwa und Benzolsäure. Die Natur hat für die Konservierung die gleichen Substanzen erfunden wie der Mensch.
Warum untersuchen Sie den Käfer dann überhaupt noch?
Der Totengräber lebt und vermehrt sich auf Leichen. Er und sein Nachwuchs sind also Keimen ausgesetzt, die sich auf den verwesenden Kadavern entwickeln. Da muss der doch ein Top-Immunsystem haben. Wir untersuchen jetzt, ob zum Beispiel mit dem Käfer assoziierte Mikroorganismen Antibiotika herstellen. Und noch etwas ist spannend: Was macht der Totengräber denn mit den Leichen?
Er verfüttert sie an seine Nachkommen?
Ja. Aber die Eltern verdauen den gesamten Fleischklops vor ihrem Maul für die Larven. Der Körper wird verflüssigt. Das gibt einen Brei, der stinkt bestialisch, und damit werden die Larven gefüttert. Das ist absolut irre. Stellen Sie sich vor, ich spucke Sie an und Sie lösen sich vor mir auf. Wie geht so was? Der Käfer muss über einen äußerst effizienten Enzymcocktail verfügen, denn die Maus wird mit Haut und Haaren aufgelöst.
Die Zutaten suchen Sie jetzt?
Wir wissen bereits, dass er das nicht alleine kann, sondern dass er Bakterien hat in der Darmflora, die ihm helfen. Wir haben absolut exotische Sachen gefunden. Der Darm vom Totengräber ist eine richtige Schatztruhe.