Süddeutsche Zeitung

Biomasse:Ein Drittel weniger Leben

Die Biomasse lebender Organismen ist deutlich geringer als angenommen. Bisher wurde die Zahl der Bakterien unter dem Meeresboden erheblich überschätzt, berichten deutsche und US-Forscher. Elefanten, Menschen und andere Säugetiere, aber auch die unzähligen Insekten fallen kaum ins Gewicht.

Christopher Schrader

Mit Elefanten oder Blauwalen muss man Jens Kallmeyer nicht kommen. In seinen Berechnungen zum Leben auf der Erde spielen die größten Säugetiere, aber auch die Menschen oder die Myriaden von Insekten keine wichtige Rolle. "Alle Tiere zusammen machen nur einen Promilleanteil aus, wenn man die Biomasse oder die Zellzahlen lebendiger Organismen berechnet", sagt der Forscher vom Geoforschungszentrum in Potsdam. Viel wichtiger sind Pflanzen und Einzeller, besonders diejenigen, die tief unter der Oberfläche leben.

Kallmeyer hat mit vier Kollegen soeben eine neue Schätzung der Einzeller in Sedimenten unter dem Meeresboden vorgelegt und damit die Menge der Biomasse auf der Erde um ein Drittel reduziert (PNAS, online).

Die Meeresforscher haben in Bohrkernen von 34 Stellen in den Ozeanen nachgezählt, wie viele Prokaryoten dort leben. Der Begriff steht für einfache Bakterien und Archaeen, die im Gegensatz zu den Zellen von Tieren und Pflanzen keinen Zellkern haben. Die Messwerte hat das Team anhand von Karten der Meeressedimente hochgerechnet.

Ergebnis: Unter dem Meeresgrund leben 29 mal 10 hoch 28 dieser Einzeller, eine Zahl mit 28 Nullen hinter der 29. Die Masse der Organismen geben die Forscher nicht an, sie lassen den Wasseranteil weg und nennen nur das Gewicht des gebundenen organischen Kohlenstoffs (ungefähr ein Drittel des Gesamtgewichts). Es beträgt etwas mehr als vier Milliarden Tonnen. Das macht nur 0,6 Prozent der Biomasse auf dem Planeten aus.

Die Bedeutung dieser Zahlen wird klar, wenn man sie mit einer Studie von 1998 vergleicht, die Kallmeyer "legendär" nennt. Damals hatte William Whitman von der University of Georgia in Athens die verfügbaren Daten über die "ungesehene Mehrheit" zusammengestellt, wie er die Prokaryoten nannte. Seinen Werten zufolge gab es 355 mal 10 hoch 28 Prokaryoten unter dem Meeresgrund, die 303 Milliarden Tonnen Kohlenstoff oder etwa 30 Prozent der Biomasse ausmachten.

Der große Unterschied zwischen den Studien entsteht Kallmeyer zufolge durch zwei Faktoren. Zum einen hat sein Team den einzelnen Bakterien weniger Masse zugebilligt als Whitman. Zudem konnte der Amerikaner damals nur wenige Proben aus besonders fruchtbaren Bereichen im tropischen Pazifik auswerten.

Die Daten des deutschen Forschers stammen hingegen auch aus den viel weiter verbreiteten öden Gebieten, den "Wüsten des Meeres". Dazu gehört zum Beispiel der südpazifische Kreisel, wo es kaum frische Nährstoffe gibt, weil das Land mit seinen Flussmündungen und Staubwolken fern ist und das Wasser seit 50 Millionen Jahren im Kreis strömt. Dort finde man fast mehr Mikrometeorite im Sediment als Bakterien, sagt Kallmeyer. Als er 2006 hinreiste, finanzierte die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa die Mission, weil sie wissen wollte, wie man Leben dort nachweist, wo es nur sehr wenig davon gibt.

Die geringe Auswahl der Proben habe Whitmans Berechnungen damals verzerrt, so Kallmeyer. "Stellen Sie sich vor, Sie müssten die Erde nach fünf Fotos beurteilen, die den Times Square, das Oktoberfest und Metropolen wie London und Tokio zeigen", sagt er. "Sie kämen auch zu falschen Schlüssen, bis Sie Bilder von Wüsten, Tundra und Gebirgen sehen." Auch William Whitman ist nicht unbedingt enttäuscht, in diesem Punkt widerlegt worden zu sein. "Die Schlussfolgerung der Kollegen ist vollkommen vernünftig. Sie haben Daten ausgewertet, die wir noch nicht hatten."

Genauso unsicher, wie bis jetzt die Zahlen für die Sedimente unter dem Meeresgrund waren, bleiben aber die Angaben für tiefere Erdschichten auf den Kontinenten. Dort vermutete Whitman 25 bis 250 mal 10 hoch 28 Zellen. Schon die breite Spanne zeigt, wie unsicher die "legendäre Studie" in diesem Punkt war. Kallmeyer plädiert daher dafür, an Land ähnliche Daten zu erheben, wie er sie für das Meer ausgewertet hat. "Wir haben unsere Hausaufgaben jetzt gemacht", sagt er.

Ihren Status als Herrscher des Planeten, gemessen an der Biomasse, haben die Prokaryoten eingebüßt. Ihr niedrigster Schätzwert beträgt 54 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. "Trotzdem haben sie eine sehr wichtige Rolle in der Biosphäre", sagt Whitman. Rein nach der Masse bewertet, kommen zum Beispiel Pflanzen auf gut das Zehnfache: 560 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Die Zahlen für Tiere liegen hingegen viel niedriger. Ameisen könnten noch eine Milliarde Tonnen erreichen, alle anderen würden in Millionen Tonnen gemessen: Fische 600, Rinder 160, Menschen 105, Krill 50, Hühner 15, Wale 6 und Elefanten 0,6.

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SZ vom 28.08.2012/hmet
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