Süddeutsche Zeitung

Biologie:Die weibliche Seite der Gewalt

Dominanzgebaren, aggressive Revieransprüche und tödliche Kämpfe unter Rivalinnen: Im Tierreich zeigt sich die weibliche Seite der Aggression.

Von Katrin Blawat

Ein liebliches Lied? Von wegen. Kaum hörte das Vogelweibchen den Gesang seiner Artgenossin aus dem Lautsprecher, konterte es mit enormer Aggressivität und schmetterte der Konkurrentin ein Kriegslied entgegen. Die Hauszaunkönigin wollte klarstellen, wer hier die Chefin ist. Ob sie Erfolg hatte?

Mit ihrem Verhalten erschütterte sie auf jeden Fall vermeintliche Gewissheiten - die über friedfertige Weibchen. So stehen weibliche Singvögel im Ruf, all ihre Energie in die Aufzucht der Jungen zu stecken. Singen höre man sie nur im Liebesduett mit ihrem Partner, keinesfalls aber wie die Männchen in kämpferischer Absicht. Für Zank und Prahlerei bleibe Weibchen weder Zeit noch Energie. So sieht es die Rollenverteilung vor, die der Mensch in der Vogel- und übrigen Tierwelt ausgemacht haben will. Doch die Weibchen des Hauszaunkönigs halten sich nicht daran, spielt man ihnen Lieder einer Geschlechtsgenossin vor, reagieren sie mit aggressivem Gegengesang (Animal Behaviour, Bd. 113, S. 39, 2016).

Berichte von angriffslustigen, rivalisierenden, zuweilen gar tötungswilligen Weibchen gibt es auch von vielen anderen Arten. Sie alle entlarven die Geschichte vom "friedlichen Geschlecht" als Mythos: Kampf und Rivalitäten sind kein reines Männerding. Auch Weibchen verhalten sich aggressiv gegenüber ihresgleichen, stechen sich im Wettbewerb um Reviere, Futter, Partner und den sozialen Status aus. "Männliche und weibliche Aggressivität unterscheidet sich quantitativ, aber nicht qualitativ", sagt der Zoologe Tim Clutton-Brock von der University of Cambridge. Mit Kollegen hat er in einer Schwerpunktausgabe der Philosophical Transactions of the Royal Society B gezeigt, wie wenig die Zweiteilung in kompetitive, aggressive Männchen auf der einen und wählerische, friedfertige Weibchen auf der anderen Seite der Realität entspricht.

Höhere Angriffslust als bei den Männchen

Angesichts der in der Fachzeitschrift zusammengetragenen Beispiele überrascht es eher, wie es überhaupt zu der Mär vom friedlichen Geschlecht kommen konnte. Zahlreiche Spezies fallen durch Weibchen auf, deren Angriffslust die der Männchen überragt. Weibliche Goldhamster, Tüpfelhyänen und Kattas (eine Lemuren-Art) zum Beispiel kennen wenig Erbarmen mit ihresgleichen. Den Weibchen der Springspinne Phidippus clarus haben Biologen der University of California gar eine "Desperado-Kampftaktik" bescheinigt: Geraten zwei Rivalinnen aneinander, ist am Ende meistens eine tot. Ihre männlichen Pendants kämpfen ritualisierter und mit weniger Verletzungsfolgen.

Auch wenn es nicht gleich um den direkten, potenziell tödlichen Kampf geht, zeigen Weibchen oft ausgeprägtes Dominanz- und Konkurrenzgebaren. "In vielen solitär oder monogam lebenden Spezies können Weibchen in Territorialstreitereien ebenso aggressiv sein wie Männchen", schreiben Clutton-Brock und seine französische Kollegin Elise Huchard. Doch wer denkt bei dem Ausdruck "sein Revier markieren" schon an Weibchen? Zu Unrecht wird dieses Verhalten häufig nur Männchen zugeschrieben.

Dabei zeigt nicht nur das Beispiel der aggressiv singenden Hauszaunköniginnen, wie viel Energie auch Weibchen in die Verteidigung ihres Territoriums investieren. Weibliche Wiesenwühlmäuse und Zebramangusten etwa setzen zahlreiche Duftmarken, um ihre Revieransprüche durchzusetzen. Selbst die akrobatischen Verrenkungen, die einige Männchen für besonders effektive Geruchsmarkierungen in Kauf nehmen, finden sich zuweilen beim anderen Geschlecht. Die Weibchen des südamerikanischen Waldhundes schwingen sich fast bis zum Handstand auf, um möglichst weit oben am Baum markieren zu können. Je höher ein Waldhund seinen Duft verbreitet, desto angesehener ist er - oder sie.

All diese Beispiele werfen eine Frage auf: Wenn Wettbewerb und Rivalitäten auch im Leben der Weibchen eine wichtige Rolle spielen - warum sind sie dann nicht besser bewaffnet und üppiger mit Statussymbolen ausgestattet? Ein Pfauenrad, ein Geweih oder imposante Muskelpakete würden doch auch ihnen zu mehr Ansehen und Schlagkraft verhelfen. Trotzdem bleibt diese offensichtliche Protzerei im Wesentlichen den Männchen vorbehalten.

Dahinter steckt keine Ungerechtigkeit der Evolution, sondern kühles Abwägen: Ist die Prahlerei ihren Preis wert? Alles, was auffallend bunt, laut und groß ist, kostet viel Energie. Auch dann, wenn die an anderer Stelle dringender benötigt wird, zum Überleben etwa. Doch ein Hirschbulle, dessen Geweih wächst, kann nicht das Programm wechseln und auf Energiesparen schalten. Womöglich stirbt der Bulle also, weil seine Ressourcen schlecht verteilt waren. Aus evolutionärer Sicht ist das nicht schlimm, denn in der Kalkulation der Natur zählt nur das Überleben des Nachwuchses. Das hängt bei den meisten Arten viel mehr von der Mutter ab als vom Vater. Also sollte vor allem das Weibchen klug mit seiner Energie haushalten, damit immer genug für den Nachwuchs bleibt.

Damit jedoch steckt das Weibchen in einem Dilemma. Um den Jungen beste Chancen zu bieten, hilft hin und wieder auch eine Prise Kampfgeist. Schließlich gibt es den besten Partner, das nahrhafteste Futter und den geeignetsten Nistplatz meist nicht geschenkt. Das Weibchen muss sich also entscheiden: Kampf oder Kinder?

Eher psychische statt physische Gewalt

Die Antwort der Evolution besteht in einem salomonischen "je nachdem". Die besten Chancen haben Mutter und Nachwuchs, wenn das Weibchen flexibel reagieren kann. Wie das funktioniert, zeigen Mäuse. Die Nager scheiden mit ihrem Urin Proteine aus, über die sie Artgenossen Stimmung und Status mitteilen. Obwohl beide Geschlechter diese Proteine herstellen, sind sie im Urin der Weibchen niedriger konzentriert. Gibt es aber einen Grund zum Wetteifern, etwa um einen Partner, fahren sie die Produktion der Proteine für kurze Zeit massiv hoch. Haben die Moleküle ihren Zweck erfüllt, investiert das Weibchen seine Energie wieder anderswo, etwa in die Aufzucht der Jungen.

Auch die Weibchen anderer Arten produzieren chemische Statussymbole nur bei Bedarf. Vermutlich ist das einer der Gründe, warum Forscher die Duftmarken von Weibchen lange missachtet haben: Sie sind ihnen schlicht nicht aufgefallen. Die Strategien der Weibchen zu verstehen erfordert Geduld und einen langen Atem.

Weitere Eigenarten weiblicher Aggressivität lassen sich ebenfalls damit erklären, dass die Evolution stets das Wohl der Nachkommen im Blick hat. So liegt etwas Wahres in dem Klischee, wonach Weibchen eher auf psychische als auf physische Gewalt setzen. Den geschilderten Beispielen kampfeslustiger Weibchen zum Trotz schreiben Huchard und Clutton-Brock in den Philosophical Transactions: "Obwohl es verfehlt wäre, Weibchen als pazifistisch zu charakterisieren, sind bei den meisten Arten Kämpfe mit ernsthaften Verletzungen zwischen Weibchen seltener." Körperliche Angriffe bergen selbst für das überlegene Weibchen das Risiko, schwere Schäden davonzutragen und nicht mehr für den Nachwuchs sorgen zu können. Einigermaßen gebannt ist diese Gefahr nur in Konstellationen, die höchst unfair erscheinen: viele gegen eine.

Von derartigen Allianzen aggressiver Weibchen berichten die Schimpansenforscherinnen Anne Pusey und Kara Schroepfer-Walker von der Duke University in North Carolina. Normalerweise haben die Schimpansinnen einer Gruppe wenig miteinander zu tun, sodass Konflikte gar nicht aufkommen. Versucht aber ein fremdes Weibchen, sich der Gruppe anzuschließen, rotten sich deren weibliche Mitglieder zusammen und gehen auf die Neue los. Im Gombe-Nationalpark in Tansania sei ein vagabundierendes Weibchen einmal neun Stunden lang von einer Koalition wütender Schimpansinnen attackiert worden, ehe sich die Einzelgängerin schwer verwundet zurückziehen konnte, berichten die Biologinnen.

Fehlen Verbündete, setzen die Weibchen vieler gemeinschaftlich lebender Arten auf Einschüchterung und sozialen Druck. Das muss nicht so grausam sein, wie es klingt - sofern alle Beteiligten die Spielregeln befolgen. Die sehen häufig eine strenge Hierarchie unter den Weibchen vor. Hat jedes seinen Platz zwischen Alpha und Omega gefunden, erübrigen sich viele Konflikte, ehe sie ausbrechen. Unter den Schimpansinnen des Gombe-Nationalparks etwa sehen die Spielregeln vor, dass nur die dominanten Weibchen oben in den Baumkronen fressen dürfen, wo die saftigsten Früchte wachsen. Ihre rangniederen Geschlechtsgenossinnen bleiben in den kargeren unteren Etagen - vielleicht mit leise knurrendem Magen, dafür unversehrt. Oft halten Hierarchien unter Weibchen länger als unter Männchen, wodurch Kämpfe zur Klärung der Rangordnung seltener nötig sind.

Jedoch zahlen die rangniederen Weibchen mancher Spezies einen hohen Preis dafür, dass sie die Rangordnung akzeptieren: Sie verzichten ihr Leben lang auf Nachwuchs; manchmal werden sie nicht einmal geschlechtsreif. Fruchtbarkeit und Fortpflanzung unterlegener Weibchen zu unterdrücken ist im Tierreich ein Mittel zur Ausübung weiblicher Macht. In Extremform praktizieren dies Nacktmulle. Sie leben in einem Tunnelsystem in Kolonien von bis zu 300 Tieren. Das Recht auf Nachwuchs liegt exklusiv bei dem Weibchen an der Spitze der Hierarchie. Die anderen werden so eingeschüchtert, dass ihnen Wille und Fähigkeit zur Fortpflanzung vergehen. Aus Sicht der Anführerin ist das perfekt: keine Jungtiere, die dem eigenen Nachwuchs die Ressourcen streitig machen könnten - das alles ohne Risiko, selbst auch nur einen Kratzer abzubekommen. Und falls ein unterlegenes Weibchen doch nicht pariert, wird es mit Kopfstößen tief in einen Tunnel geschubst.

"Maximale Schädigung der Konkurrentin"

Auch Steppenpavian-Weibchen am unteren Ende der Hierarchie müssen während ihrer fruchtbaren Tage Aggressionen dominanter Weibchen ertragen. Selbst wenn die bedrängten Weibchen ein paar Minuten für ungestörten Sex finden, reduzieren die Attacken die Chance, dass sich der Embryo einnistet und normal entwickelt. Geburtenkontrolle per Psychostress ist keine Seltenheit im Tierreich. Blutig wird es, wenn eine Unterlegene doch zum Zug kommt. Dessen Nachkommen haben meist nicht lange zu leben: Infantizid durch Weibchen ist verbreitet, so bei Erdmännchen, Erdhörnchen, Krallenaffen, manchen Singvögeln und Schimpansen.

Auf ihrer Expedition durch das Tierreich haben die Forscher auch Menschen nicht ausgelassen - und Parallelen gefunden. "Frauen zeigen deutlich weniger physische Aggression als Männer", schreiben Clutton-Brock und Huchard. "Das soll nicht heißen, dass Frauen keine Kontrolle ausüben wollen über das Verhalten anderer. Aber normalerweise lernen Mädchen dies auf subtilem Wege zu tun, der ohne direkte Konfrontation auskommt."

Demnach fliegen im Streit zwischen Frauen seltener Fäuste als verletzende Worte - und auch die oft nur Dritten gegenüber. Wer in großer Runde über eine Abwesende lästert, kann ziemlich sicher sein, dass die Betroffene irgendwann von der Schmähung erfährt. Von wem sie stammt, lässt sich oft nicht mehr rekonstruieren. In den Worten des finnischen Psychologen Kaj Björkqvist bietet diese Strategie "maximale Schädigung der Konkurrentin bei minimalem Risiko für die eigene Person". Worte als Waffen wirken unter Frauen auch deshalb so mächtig, weil sie oft enge Bindungen untereinander pflegen. Erst diese emotionale Abhängigkeit lässt die geringschätzige Bemerkung, den abwertenden Blick der anderen so schmerzen. Und sie macht die - oft nicht einmal explizit geäußerte - Androhung, bei Aufbegehren aus der Gemeinschaft gestoßen zu werden, zur schlimmsten Form der indirekten Aggressivität.

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Quelle:
SZ vom 20.02.2016
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