Es waren Tränen der Hoffnungslosigkeit. Aufgelöst war die Schülerin in Kanada zu ihrem Lehrer gekommen: Sie sei so traurig, seit sie dieses Buch gelesen habe. Ein Verleger aus Neuseeland wiederum hatte drei schlaflose Nächte verbracht, weil ihm die Botschaft des Buches "so kalt und düster" vorgekommen war. Viele Leser fragten, wie es der Autor angesichts seines nihilistischen Pessimismus fertigbrächte, morgens aufzustehen.
Viele solcher Klagen hat sich Richard Dawkins, britischer Zoologe und Professor für die Popularisierung der Wissenschaft an der Universität Oxford, in den vergangenen Jahrzehnten anhören müssen - die meisten betreffen sein erstes Buch "Das egoistische Gen", das am Donnerstag vor 30 Jahren in die Buchläden kam und inzwischen in 27 Sprachen übersetzt und über eine Million mal verkauft worden ist.
Der Einfluss des Buches könne eigentlich nicht überschätzt werden, erklären Dawkins' Kollegen. "Es hat die Art, wie wir denken, von Grund auf verändert", sagen die Biologen Alan Grafen und Mark Ridley, die einen Essayband über Dawkins herausgegeben haben. Norbert Sachser, Verhaltensbiologe an der Universität Bielefeld, ergänzt stellvertretend für viele Kollegen, die Dawkins und sein Buch als Studenten oder junge Wissenschaftler erlebten: "Durch ihn erst wurde klar, dass sich in den siebziger Jahren ein Paradigmenwechsel vollzog."
Bis dahin nämlich galt für die alte Garde der Verhaltensforscher, allen voran Konrad Lorenz: Eine Verhaltensweise setzt sich in der Evolution durch, wenn sie der Arterhaltung dient. Was nicht ins Theoriengebäude dieser Gruppenselektion passte - wie das Töten von Jungtieren der eigenen Art - wurde als unnatürliches Verhalten erklärt. Seit Mitte der Sechziger aber äußerten englische und amerikanische Forscher andere Ideen: Nicht die Art sei Grundeinheit der Evolution, sondern das Individuum, so wie das auch Charles Darwin gesehen hatte.
Die "Neo-Darwinisten" gingen noch weiter: Eigentlich waren es die Gene, auf die es ankam. Doch die umstürzlerischen Worte blieben weitgehend unbemerkt. Stattdessen sammelten die Verfechter der "alten Lehre" Meriten: Konrad Lorenz erhielt 1973 mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen den Nobelpreis.
Damals war Richard Dawkins 32 Jahre alt. Er hatte zwar bei Tinbergen in Oxford promoviert, aber er war fasziniert von den neuen Ideen, die er in einem Buch zusammenfasste, das er nach eigenen Worten "in einem Zustand fieberhafter Erregung" schrieb: Durch das "egoistische Gen" erfuhr die Öffentlichkeit erstmals, dass es ganz andere Ideen über die Evolution gab, als sie die Nobelpreisträger vertraten. Dawkins erklärte sie so klar und einsichtig, dass auch Laien begreifen konnten, wie durch natürliche Selektion aus einfachen Molekülen im Laufe der Milliarden Jahre komplexe Lebewesen entstanden waren.
Die Grundlage der gesamten belebten Welt aber war das, was Dawkins als den "Egoismus der Gene" beschrieb. Er betrachtete ihn als Voraussetzung, nicht als Schlussfolgerung, denn Gene, die nicht konsequent ihre eigene Vervielfältigung anstrebten, hatten im Wettbewerb auf Dauer keine Chance. Ohne den Eigennutz, den Dawkins den an sich leblosen Molekülen zusprach, könne es keine Evolution durch natürliche Selektion geben. Darwin hatte den Mechanismus als Auswahl zwischen zufälligen Variationen beschrieben, deren beste sich auf Dauer durchsetzt. Nicht die Art, Gruppe oder das einzelne Lebewesen, sondern nur Gene hätten die nötigen Eigenschaften, sagte Dawkins: Gene speichern und kopieren Information und schaffen durch kleine Fehler die Basis biologischer Vielfalt.
Plötzlich ergab vieles einen Sinn
Im Lichte des Gen-Egoismus ergab es plötzlich Sinn, wenn ein Löwenmännchen, das ein Rudel übernommen hatte, die Jungtiere tötet, die sein Vorgänger gezeugt hat. Die Weibchen werden eher wieder fruchtbar, der Neue bekommt schneller die Chance, die eigenen Gene weiterzugeben. Gene brachten die Lebewesen aber auch dazu, zu kooperieren. Dies zu erklären war für Dawkins der eigentliche Zweck des Buches: Wie konnte sich Altruismus in der Evolution verbreiten, wenn die Gene egoistisch sein mussten?
Darin bestand die eigentliche Leistung der Soziobiologen, wie die Neo-Darwinisten nach einem preisgekrönten Buch von Edward O. Wilson auch genannt wurden. Sie nutzen neue Ansätze wie mathematische Kosten-und-Nutzen-Berechnungen und die Spieltheorie und erklärten erstmals, wie gerade wegen der egoistischen Gene Kooperation und Aufopferung unter Lebewesen entstehen konnten: etwa durch verwandtschaftliche Bande, oder weil Nichtverwandte sich nach dem Prinzip des 'Wie du mir, so ich dir' gute Taten mit gleicher Münze zurückzahlten.
Kooperation lohnte sich immer dann, wenn sie zu mehr Nachkommen führte und damit die Gene für Altruismus verbreitete: "Eigentlich geht es vor allem um die Entstehung von Altruismus", sagt Dawkins.
Vielen Lesern blieben aber weniger die bahnbrechenden Ideen über die Kooperation im Gedächtnis, sondern Dawkins' Sätze über die Stellung des Menschen: "Wir sind nur die Überlebensmaschinen der Gene. Wenn wir unseren Zweck erfüllen, werden wir beiseitegeschoben", schrieb er. Genau das ließ Leser wie den Verleger aus Neuseeland nicht schlafen und trieb der kanadischen Schülerin Tränen in die Augen. Wenn Gene Organismen erschaffen, die im Interesse der Gene agieren, so ihre Folgerung, dann müssen auch diese Individuen unvermeidlich egoistisch sein.
"Die Leser hatten den Eindruck, Dawkins spreche von genetischem Determinismus", sagt John Lyne, Experte für wissenschaftliche Rhetorik von der University of Pittsburgh. Und Manfred Milinski, der am Max-Planck-Institut für Limnologie in Plön die Evolution erforscht, ergänzt: "Die deutsche Ausgabe unterstützte den Eindruck noch durch das unglückliche Titelbild einer Marionette."
Dawkins hatte allerdings selbst zu dem Missverständnis beigetragen. Um die komplizierte Materie anschaulich zu machen, hatte er den Genen Leben eingehaucht, ihnen bewusste Absichten zugebilligt. "Unsere Intuition für soziales Verhalten vereinnahmte die Gene völlig", sagt Randolph Nesse, Psychologe von der University of Michigan. Die Vorstellung, an den Marionettenschnüren der Gene zu hängen, war für viele Leser hoffnungslos und kalt.
Dabei hatte Dawkins erklärt, dass gerade der Mensch in der Lage sei, die Tyrannei der leblosen Moleküle zu überwinden, zum Beispiel durch Empfängnisverhütung. Mit dem Sinn des Lebens habe das alles überhaupt nichts zu tun. Soziobiologen sagten immer wieder, sie beschrieben lediglich, wie Evolution funktioniere, und nicht verkünden, was moralisch richtig oder falsch sei. "Diese Hinweise waren so effektiv wie ,Bitte langsam fahren'-Warnschilder an Baustellen auf einsamen Wüsten-Highways", sagt Nesse.
"Ein Bohnensack voll Gene"
In den achtziger Jahren geriet das Buch immer mehr in die Kritik, die Debatte wurde politischer. Der scharfzüngige britische Intellektuelle Dawkins wurde zur Zielscheibe von Rechten wie Linken, Feministinnen, Kultur- und Sozialwissenschaftlern, Religiösen und Mystikern. Auch von wissenschaftlicher Seite hagelte es Vorwürfe. Die Soziobiologen betrachteten Lebewesen als "einen Bohnensack voll Gene", rügte der Evolutionsbiologe Ernst Mayr. Die reduktionistische Vorstellung übersehe die Gesamtzusammenhänge, ganze Phasen wie etwa die embryonale Entwicklung würden ausgeblendet.
Im Laufe der Jahrzehnte entdeckten Wissenschaftler zudem Mechanismen der genetischen Steuerung, die Dawkins noch nicht kannte. Sie beruht bei der Methylierung zum Beispiel nicht auf vererbbaren Mutationen des Genoms, sondern auf kleinen Anhängseln, die das Ablesen der Gene steuern. Die Genom-Projekte der letzten Jahre haben zudem offenbart, wie viele Gene selbst Mensch und Fadenwurm gemeinsam haben: Das belegt ebenfalls, dass es nicht nur auf die reine Buchstabensequenz ankommt.
Ob diese Entdeckungen Dawkins widerlegen, ist indes eher zweifelhaft. Denn auch das haben viele überlesen: Dawkins definiert Gene sehr großzügig. Sie sind nicht einfach nur funktionelle Abschnitte auf dem DNS-Strang. Jede Art genomischer Information fällt darunter.
Dawkins hat seine oft unerbittliche Kampfeslust inzwischen ausgeweitet. Mit Vehemenz und Prägnanz kämpft der erklärte Atheist gegen christlich-motivierte Opposition zur Evolutionstheorie, gegen Kreationismus und Intelligent Design. In seinem neuen Buch "The God Delusion" (der Gottes-Wahn) geht er noch weiter und erklärt religiösen Glauben generell zum Hirngespinst.
Mildere Töne äußert Großbritanniens "führender Intellektueller" (so eine Internetumfrage) aber, wenn es um sein Erstlingswerk geht. Dawkins weiß, dass seine so häufig zitierte Metapher vom egoistischen Gen viele falsche Vorstellungen hervorrief: "Der Titel könnte auch ,Das altruistische Tier' heißen", räumt er ein. Mehr gesteht er nicht zu: "Das Buch würde ich heute nicht wesentlich anders schreiben."