Bio-Moleküle als Bauarbeiter:Das Auf- und Abladen müssen sie noch lernen

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Umleitung in den Kreisverkehr: Die Dresdener Forscher ersinnen Möglichkeiten, wie man winzige Lasten mit molekularen Motoren transportieren und steuern kann. Der Blick durchs Mikroskop links zeigt, wie ein orange leuchtender Mikrotubulus auf eine Kreisbahn gelenkt wird.

Uta Bilow

Hätte ich gewusst, dass das Labor von Stefan Diez im vierten Stock liegt, wäre ich in den Aufzug gestiegen. Nun aber spurtet der 35-Jährige vor mir die Treppenstufen hinauf mit einer Leichtigkeit, die ihn als passionierten Sportler ausweist. Etage um Etage wendeln wir uns im Uhrzeigersinn die Treppe hinauf, die sich wie ein DNA-Modell im Foyer des Max-Planck-Instituts (MPI) für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden- Johannstadt in die Höhe schraubt.Mein Blick fällt zurück auf das morgendlich leere Foyer tief unter uns - verwaiste Sitzgruppen, geschlossene Kaffeebar. Währenddessen erklimme ich keuchend die letzten Stufen. Diez lacht: "Alles Übung!" So sieht sein Büro auch aus. An der Wand hängt ein Fahrradhelm, unterm Tisch stehen Turnschuhe, und in der Ecke lehnen ein Paar Langlaufski. Die wahre Leidenschaft von Stefan Diez aber - das weiß ich bereits von seiner Homepage - sind molekulare Motoren. "Schauen Sie sich Ihren kleinen Finger an! Wenn Sie den krümmen, was das für eine Kraft erzeugt", schwärmt der sportliche Biophysiker. Eine alltägliche Bewegung, die mich kaum Anstrengung kostet, aber mit der ich - physikalisch gesehen - in der Tat wie eine Maschine Arbeit verrichte. Diez erklärt, wie solche Muskelkontraktionen zustande kommen. Grundlage dafür ist das Zusammenspiel zweier Proteine im Organismus. Die se verschieben sich so gegeneinander, dass das eine davon, eine Faser, sich immer wieder um zehn Millionstel Millimeter zusammenzieht. Eine verschwindend kleine Distanz. Die Proteine sind jedoch keine Einzelkämpfer. Und deshalb bewerkstelligen sie im Kollektiv eben doch Gewaltiges, beispielsweise das Krümmen eines Fingers.

Auch andere biologische Bewegungsabläufe wie etwa der Geißelschlag eines Spermiums, mit dem sich dieses auf den Weg zur Eizelle begibt, beruhen auf der Kraft von solchen Zellmotoren. Vor etwa 20 Jahren, als Stefan Diez noch in Dresden die Schulbank drückte, begann die Wissenschaft, sich für molekulare Motoren zu interessieren. Die große Bedeutung dieser Proteine für lebende Zellen war rasch erkannt. Inzwischen sind zahlreiche Details über Strukturen und Wirkungsweisen der verschiedenen Motorproteine zusammengetragen worden. Besonders beeindruckend ist ihre hohe Energieeffizienz. Als "Treibstoff" nutzen sie Adenosintriphosphat, kurz ATP. Dies ist die universelle Energiewährung aller Lebewesen, die von den Mitochondrien der Zellen zur Verfügung gestellt wird. Und weil die Motorproteine die im ATP chemisch gebundene Energie fast ohne Wärmeverlust direkt in mechanische Arbeit umsetzen, lassen sie jeden Ingenieur vor Neid erblassen. "Berechnungen kommen auf einen Wirkungsgrad von bis zu 80 Prozent", weiß Stefan Diez. "Die Natur hat diese molekularen Motoren eben im Verlauf von Jahrmillionen für zelluläre Aufgaben optimiert." Dieses einmalige Potenzial wollen die Forscher am Dresdener Max-Planck-Institut nun für ihre Zwecke erschließen.

Zwei Türen weiter empfängt uns Jonathon Howard in seinem Büro. Der 48-Jährige ist einer der sechs Direktoren am Dresdener MPI.Wenn er von seinen Forschungszielen spricht, blitzen die Augen des gebürtigen Australiers lebhaft. "Die Zelle ist nichts anderes als eine phantastisch gut funktionierende Fabrik. Die Prinzipien der Zellorganisation sind ungemein faszinierend. Wir wollen dies nun auf andere Umgebungen übertragen." Howard und Diez sind überzeugt: Molekulare Motoren wären ein geniales Werkzeug für die Nanotechnologie. Genau so, wie die Proteine im Organismus ihre Arbeit verrichten, sollten sie sich auch in künstlichen Systemen einspannen lassen. Jonathon Howard: "Das Tolle ist ja gerade: Wir können mit diesen Motoren auf der molekularen Ebene hantieren. Das ist die bottom-up-Strategie, ein viel versprechender Ansatz für die Nanotechnologie." Denn auf der Marschroute in die Nanowelt geht den herkömmlichen Techniken allmählich die Puste aus, die Miniaturisierung - beispielsweise in der Elektronikindustrie - schreitet nur noch langsam voran.Weil es immer aufwändiger wird, kleinste Strukturen aus größeren Werkstücken herauszuarbeiten, ruhen auf dem bottom-up-Weg berechtigte Hoffnungen. Bei diesem Ansatz nähern sich die Forscher dem Ziel vom anderen Ende der Größenskala her, indem sie einzelne Moleküle zu funktionalen Einheiten im Nanoformat zusammenfügen.

Als Vehikel für diesen Weg haben die Dresdener Forscher das Motorprotein Kinesin ausgewählt. Diez hat in seinem Büro eine kleine Animation vorbereitet, die den Vorgang in vergrößerter und verlangsamter Form zeigt. Auf dem Bildschirm erscheint ein Kinesin-Molekül. Es ähnelt einem kopf- und armlosen Wesen, besteht aus einem verdrillten Strang, der in zwei Füßen endet. Mit diesen steht es auf einer Art Straße. "Das ist ein Mikrotubulus, ein starres, langgestrecktes Molekül des Zellskeletts." Stefan Diez deutet auf den Bildschirm. "Sobald der Motor ATP erhält, läuft er los." Mit einem Tastendruck lässt er das Kinesin-Molekül starten. Langsam hebt das Protein einen Fuß vom Strang und heftet ihn acht Nanometer entfernt wieder an. Dann folgt der nächste Schritt mit dem anderen Fuß. Etwas ungelenk sieht das Ganze in Zeitlupe aus, aber das Ergebnis ist beachtlich: Bis zu 100 Schritte pro Sekunde legt ein Kinesin-Molekül auf diese Weise zurück. Der Clou dabei: Kinesin fungiert im Organismus als eine Art Packesel. Denn das Protein schleppt riesige Lasten quer durch den Körper. Seine Ladung sind beispielsweise Neurotransmitter, die im Rückenmark gebildet werden. "100 Jahre würde es dauern, bis diese Botenstoffe allein durch Diffusion an die Zehenspitzen gelangt wären", verdeutlicht Stefan Diez. Mit dem Kinesin-Shuttle erreichen die Moleküle dagegen im Bruchteil dieses Zeitraumes ihren Bestimmungsort. "Ein geniales Transportsystem",meint der Biophysiker, "damit können wir alles Mögliche anstellen." Denn das molekulare System aus Laufschiene und Motor ist äußerst robust und funktioniert grundsätzlich nicht nur im komplexen Gefüge einer Zelle, sondern auch außerhalb, in künstlichen Umgebungen. Eine von Diez' Lieblingsvisionen:

"Wir lassen die Mostorproteine als winzige Roboter arbeiten, und sie bauen uns Schaltkreise im Nanoformat." Andere Pläne gehen dahin, molekulare Reaktionssysteme zu konstruieren oder die Motorproteine zur Entwicklung neuartiger Mikroskope zu nutzen. So futuristisch das auch klingen mag - an höchster Stelle kamen Diez' Ideen bislang gut an: Erst im vergangenen Jahr wurde er als Preisträger in einem Nanotechnologie-Wettbewerb des Bundesforschungsministeriums ausgewählt.Mit dem Preisgeld finanziert er nun seine fünfköpfige Arbeitsgruppe am Dresdener MPI. "Insgesamt ist es sicherlich ein langer Weg bis zur Umsetzung unserer Visionen", gibt er unumwunden zu, "aber wir kommen Schritt für Schritt voran. Zunächst füllen wir die Toolbox". Das bedeutet: lernen, wie man ein einzelnes Kinesin-Molekül steuern kann, wie man einen Mikrotubulus zum Starten und Anhalten bringt oder wie man Lasten auf- und ablädt. "Ohne meine Mitarbeiter wäre ich da aufgeschmissen." Eine Glastür - die fast immer offen steht - trennt Diez' kleines Büro von dem Raum, in dem seine Forschungsgruppe arbeitet. Im hinteren Teil stehen Laborbänke, vorne am Fenster reihen sich großflächige Schreibtische aneinander. Der Blick aus dem vierten Stock ist grandios. Rechts strömt die Elbe durch grüne Wiesen, geradeaus reicht der Blick Richtung Westen bis zur Innenstadt mit Frauenkirche und Schlossturm. Eine alltägliche Aussicht für Cordula Reuther. Seit einem Jahr gehört sie zu Diez' Gruppe und arbeitet am MPI. Ihr Spezialgebiet: Klare Richtungsvorgaben für Motor-Proteine. "Kinesin ist sehr robust. Wir können die Moleküle wie einen Teppich auf eine flache Platte aufbringen. Der verdrillte Strang heftet sich an, und die Füße der Kinesin-Moleküle stehen nach oben ab.Wenn wir dann Mikrotubuli zugeben, krabbeln die sozusagen auf der Oberfläche herum, denn die Motoren schieben sie immer weiter." Die hochgewachsene Materialwissenschaftlerin zeigt einen kleinen Film, der durch ein Mikroskop aufgenommen wurde. Hier gleiten mit rotem Fluoreszenz-Farbstoff markierte Mikrotubuli ziellos über einen Kinesin-Teppich. Einige krabbeln mehr oder weniger stur geradeaus, andere kurven geradezu über die Oberfläche oder beschreiben Spiralen. Cordula Reuther: "Wir wollen diese Bewegung steuern. Dazu müssen wir die Motorproteine exakter anordnen." Mit verschiedenen Methoden versucht die Biologin nun, die Kinesin-Moleküle quasi auf die Glasplatte aufzustempeln und den Teppich so mit Bahnen zu mustern.

Eine andere Möglichkeit: Entsprechende Oberflächenstrukturen wie beispielsweise parallele Rillen. Sie bewirken, dass die Tubuli vorzugsweise innerhalb der Rillen und damit gradlinig wandern. Das funktioniert besonders gut, wenn die Stege zwischen den Rillen zuvor so beschichtet werden, dass sich daran gar keine Kinesin-Moleküle anlagern. Stefan Diez zeigt Bilder von Kunststoffen, in die fischreusenartige Muster eingekerbt sind. Auch hier gibt es für die Tubuli nur eine Richtung: vorwärts. Auf einer anderen Platte können die Biophysiker die Moleküle zirkulieren lassen. Alle Zuführungen stoßen im spitzen Winkel auf den

zentralen Kreisverkehr, so dass sämtliche Mikrotubuli gegen den Uhrzeigersinn gezwungen werden, Geisterfahrer ausgeschlossen. Was lässt sich nun mit diesen gerichteten Bewegungen anfangen? "Die Mikrotubuli können zunächst mal verschiedene Lasten von A nach B transportieren", erklärt Diez. "Das können Nanoröhrchen sein, Antikörper oder auch DNA. Stellen Sie sich Tubuli vor, die mit einem Antikörper verknüpft sind. Dieser Antikörper kann aus einer komplexen Mischung ganz selektiv ein Molekül herausfischen. Jetzt nehmen Sie zwei verschiedene Antikörper, die an Tubuli gebunden sind. Dazu einen Kanal, der sich verzweigt und in zwei Vorratsgefäßen mündet sowie ein optisches System, das die Sorten unterscheiden kann. Das ergäbe eine molekulare Sortiermaschine, die beide Antikörper-Sorten und damit die von ihnen aufgelesenen Moleküle voneinander trennt." Klein, präzise und effektiv wäre eine solche Maschine, da könnten Aschenputtels Tauben nicht mithalten. Stefan Diez schenkt Mineralwasser nach, dann kommt er zu seinem "Lieblingskind": NAMOS - so heißt sein ambitioniertestes Projekt. Im Verbund mit anderen Forschern soll ein "Nanostrukturassembler" entstehen: ein Gerät, das mit Hilfe von molekularen Motoren einzelne Leiterbahnen zu Netzwerken zusammenfügt. Partner für diesen ersten Schritt hin zu elektronischen Schaltkreisen im Nanoformat fanden sich im unmittelbaren Umfeld. "Wir haben in Dresden eine sehr starke Nanound Biotechnologie-Szene. Das ist richtig toll, was hier in den letzten Jahren herangewachsen ist", sagt er mit unverkennbarem Stolz auf seine Heimatstadt. Die Leiterbahnen, die der Assembler zusammensetzen soll, sind nur zehn Nanometer dick, also glattweg um den Faktor zehn kleiner als die Strukturen, die heute auf Halbleiterchips vorherrschen. Sie bestehen aus DNA, den fadenförmigen Molekülen der Erbsubstanz, die mit Metall überzogen zum elektrischen Leiter werden. Stefan Diez: "Wir können mit den Mikrotubuli DNA-Stränge zwischen zwei Kontaktpunkten aufspannen - wie eine Leine zwischen zwei Bäumen. Unsere "Bäume" sind zum Beispiel Goldkontakte. Daran werden die DNA-Stränge mit einem Ende fixiert. Das andere Strangende ist mit einem Mikrotubulus verknüpft. Wenn der jetzt über die Oberfläche gleitet bis zum nächsten Kontakt, wird die DNA dazwischen gespannt." Theoretisch kann man das auch mit der Spitze eines Rasterkraftmikroskops erledigen. Doch Diez' Ansatz, die Motorproteine dafür einzuspannen, hat den immensen Vorteil der Parallelisierung. Statt mühselig einen DNA-Strang nach dem anderen zu positionieren, können viele Tubuli gleichzeitig viele Stränge verlegen. "Das ergibt natürlich erst mal ein wirres Netzwerk, wo DNA zwischen allen möglichen Kontakten gespannt ist. Der nächste Punkt ist deshalb: Alle DNA entfernen, die wir nicht haben wollen. Das machen wir mit Restriktionsenzymen, die die Stränge an bestimmten Stellen durchschneiden", so Diez. Zurück bleiben nur die erwünschten Verbindungen. Die Idee zu dieser Vorgehensweise ist der belebten Natur entlehnt.

"Das sind Evolutionsmechanismen, wie wir sie von biologischen Zellen kennen. Zuerst kommt die Variation, also der Aufbau aller möglichen Verbindungen. Dann folgt die Selektion, bei der wir alle überflüssige DNA eliminieren." Das biologische Vokabular sitzt. Dabei hat Stefan Diez eigentlich Physik studiert, in Jena und Berlin. Ein Postdoc-Aufenthalt führte ihn dann vor fünf Jahren nach Seattle, in die Gruppe von Jonathon Howard. Dort sollte der junge Physiker optische Methoden für die Biologen entwickeln.Und dort hat ihn die Biologie gepackt und nicht mehr losgelassen. Seither bezeichnet er sich als Biophysiker und arbeitet mit molekularen Motoren an der Schnittstelle zwischen Physik und Biologie. "Beide Gebiete befruchten sich gegenseitig", schwärmt Diez, "wir machen nicht nur Nanotechnologie mit biologischen Mitteln, sondern verwenden umgekehrt auch das Know-how aus der Nanotechnologie, um über die Biologie etwas zu erfahren. Unsere Experimente haben beispielsweise ergeben, dass der Kinesin-Schwanz ziemlich gestaucht ist und dadurch nicht so lang erscheint, wie man eigentlich vermuten würde." Diez hat viele Ideen, wozu die Zellmotoren gut sein könnten. Zum Beispiel als Basis für ein neuartiges Mikroskop. "Mit Leuchtstoffen beschichtete Mikrotubuli sind eine Art molekularer Explorer", sagt er. "Wenn sie über eine Oberfläche gleiten, erfassen sie alle Erhebungen und Hindernisse.Wir arbeiten an einem Verfahren, wo die Lichtstärke der leuchtenden Tubuli die Topographie der Oberfläche widerspiegelt. Das wäre sozusagen hochparalleles Rastern." Eine andere Idee ist ein gezielter Crash zwischen Mikrotubuli. "Wir wollen sie als eine Art Katalysator verwenden.

Dazu beladen wir sie mit Chemikalien und lassen sie zusammenstoßen. Durch diesen Zusammenprall zwingen wir die Moleküle quasi zur Reaktion. Durch die Mikrotubuli würden die Moleküle enorm beschleunigt. Diese Energie könnte dazu ausreichen, so manche Reaktion auszulösen." Erneut füllt Diez unsere Trinkgläser und liefert damit ein wichtiges Stichwort: Können die molekularen Motoren - ihrer gewohnten Zellumgebung entrissen - eigentlich gänzlich auf dem Trockenen existieren? "Nein, sie brauchen Wasser, wie wir auch", bedauert Diez. Das ist in der Tat ein Haken für so manche Anwendung, die im Trockenen ablaufen muss. Doch Diez ist zuversichtlich, dass die Biotechnologie hier Lösungen liefern wird. Als wir am späten Vormittag die Wendeltreppe ins Foyer herunterkommen, herrscht dort reger Betrieb. Die Kaffeebar ist umlagert, nahezu alle Tische sind besetzt. Das ungewöhnliche Gedränge hat einen speziellen Grund: "PhD-Woche", sagt der Biophysiker und erklärt: "Diese Woche finden Auswahlgespräche statt für die Doktorandenplätze am MPI.Wir haben 75 Bewerber eingeladen, und die gucken sich nun das Haus und die Forschungsgruppen an." Diez blickt zufrieden drein: Er hat bereits mit einigen Interessenten gesprochen - und konnte sie mit seiner Begeisterung für molekulare Motoren anstecken.

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