Mädchen lesen gern, Jungs können mit Büchern weniger anfangen. Ein Stereotyp, das eine statistische Grundlage hat. In fast allen Ländern, die an der jüngsten Pisa-Studie teilnahmen, lasen 15-jährige Mädchen besser und verstanden Sprache schneller als gleichaltrige Jungs. Um ein ganzes Schuljahr waren die Mädchen im Schnitt voraus. "Der Unterschied ist ziemlich kräftig und erstaunlicherweise über viele Länder hinweg stabil", sagt der Bildungsforscher Manfred Prenzel von der TU München. Nun zeigt sich: Teil des Problems ist wohl, dass sich das Stereotyp in den Köpfen der Kinder festgesetzt hat.
Forscher der Universität Grenoble haben Hinweise dafür gefunden, dass der Vorsprung womöglich mehr auf selbstgemachten Vorurteilen beruht als auf biologischen Unterschieden. Französischen Drittklässlern gaben sie die Aufgabe, auf einer Liste mit Wörtern in wenigen Minuten möglichst viele Tiernamen zu unterstreichen. Während sie manchen Klassen mitteilten, es handle sich um eine echte Prüfung der Leseleistung, sagten sie anderen Schülern, sie dürften das "Tier-Angeln"-Spiel einer Zeitschrift zum Spaß ausprobieren. Das Ergebnis des kleinen Experiments war eindeutig: Während die Jungen in der ernsten Situation deutlich weniger Tiernamen fanden, gelang ihnen die gleiche Aufgabe als Spiel genauso gut wie den Mädchen, schreiben die Forscher um Pascal Pansu im Journal of Experimental Social Psychology. Die männlichen Schüler, die zuvor angegeben hatten, Lesen sei ihnen besonders wichtig, zeigten die größten Unterschiede je nach Prüfungsstress. Sie überflügelten in der Spielsituation sogar die Mädchen.
Lesen ist weiblich - dieses Bild setzt sich früh fest
Die Psychologen nennen dies "Bedrohung durch Stereotype": Jungen sind womöglich von der unbewussten Erwartung belastet, schlechter als die Mitschülerinnen lesen zu können, was dann ihre reale Leistung einschränkt - ähnlich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Dafür spricht, dass gerade die dem Lesen zugewandten Jungen deutlich besser abschnitten, wenn ihnen die Angst vor dem Scheitern genommen war. Umgekehrt erzielten die lesefreudigen Mädchen im echten Test höhere Punktzahlen als in der Spielvariante. Sie seien wohl nicht mit dem Stereotyp belastet, mutmaßen die Forscher. Die Mädchen könnte das vorherrschende Vorurteil sogar noch in ihrer Leistung steigern. Weitere Studien müssten das jedoch vertiefen. Ähnliches kennen Bildungsforscher bereits aus der Mathematik: Beim Rechnen liegen in den meisten Ländern - im Schnitt - die Jungs vorne. Psychologen vermuten auch dort, dass dies stark mit der Selbstwahrnehmung zusammenhängt. Wenn sie Teilnehmerinnen von Mathetests wissen lassen, dass Frauen generell schlechter abschneiden, verstärkt das die Leistungsunterschiede.
Bislang sei die weltweite - in Deutschland besonders ausgeprägte - "Leselücke" kaum untersucht, sagen die französischen Psychologen, obwohl der Abstand zwischen den Geschlechtern noch größer sei als beim Rechnen. "Lesen ist stark weiblich konnotiert, dieses Bild prägt sich schon sehr früh bei Kindern ein", sagt die Bildungsforscherin Cordula Artelt von der Universität Bamberg. Aus diesem Tief herauszukommen, sei nicht einfach für Jungs.