Was ist der Mensch? Leider kein Stofftier. Sonst wäre die Antwort ja einfach, wie der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Mannheimer Zentralinstituts (ZI) für seelische Gesundheit demonstriert. In einem Feldversuch hat er identische Teddybären an zwei Kinder ausgegeben. Als der Wissenschaftler die Tiere nach einem Jahr wieder begutachtete, hatten sich die beiden Bären extrem unterschiedlich entwickelt. Gekämmt und gepflegt wirkte der eine, zerzaust und mitgenommen der andere. "Offenbar haben hier Umweltfaktoren gewirkt", kommentiert Meyer-Lindenberg lakonisch.
Ein guter Gag, aber noch keine befriedigende Antwort auf die überaus große Frage, die sich die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, zu ihrer Jahresversammlung am vergangenen Wochenende in Halle vorgenommen hatte: "Wie wurde ich zu der Person, die ich bin?"
"Erinnerungen sind nur solange sicher, wie wir uns nicht an sie erinnern"
Klar war nur eines von Anfang an: dass die klassische Nature-or-Nurture-Kontroverse endgültig zu den Akten gelegt ist. Die Idee von der DNA als Software des Lebens ist nurmehr eine schlechte Metapher. Gene legen nicht stur fest, ob man in seinem Leben an Depression erkranken oder zum überdurchschnittlich häufigen Verüben von Banküberfällen neigen wird. Genauso wenig aber ist der neugeborene Mensch ein unbeschriebenes Blatt Papier, bereit für alle Texte der Welt. Heute weiß man, dass Geist und Gehirn, Genom und Gesellschaft in komplexer Weise wechselwirken und dabei immer neue Fragen aufwerfen.
"Es sind tiefe Fragen", warnte der Biopsychologe Onur Güntürkün von der Universität Bochum in seinem Eröffnungsvortrag vor schnellen Antworten und vermeintlich verlässlichen Intuitionen. Noch nicht mal der Erfahrung des eigenen Körpers könne man sich gewiss sein. Er berichtete von den bizarren neurowissenschaftlichen Experimenten der vergangenen Jahre.
So gelang es ihm, einer Studentin eine künstliche Hand regelrecht anzuhexen. Es genügte, einen ihrer Arme hinter einer Blende zu verbergen und an dessen Stelle ein Gummimodell auf den Tisch zu legen. Dann werden realer Arm und Modell synchron mit einem Pinsel gestreichelt. Das Gehirn kombiniert die anfangs widersprüchlichen Signale und erzeugt so ein Körpergefühl im Gummiarm. "Unser Körperschema lässt sich so in 30 Sekunden ändern", sagte Güntürkün. "Wenn wir ein Leben lang mit einem Schraubenzieher herumlaufen, würden wir den auch in unser Körperbild integrieren."
Ähnlich wenig Verlass sei auf das autobiografische Gedächtnis, das doch zum Kern menschlicher Identität gehört, sagte Güntürkün und verwies auf die Experimente der US-Psychologin Elizabeth Loftus. Ihr gelang es, Probanden frei erfundene biografische Anekdoten einzureden, etwa, sie hätten sich als Kind in einem Supermarkt verirrt. Eine Erinnerung ist eben nicht in Stein gemeißelt, sondern gleicht einem Word-Dokument, dass sich jederzeit aufrufen und verändert im Computer abspeichern lässt. "Es ist eine deprimierende Erkenntnis", sagte Güntürkün. "Erinnerungen sind nur solange sicher, wie wir uns nicht an sie erinnern." Denn auch man selber neige dazu, die eigenen Gedächtnisinhalte aufzuhübschen.
So zeigt sich bereits in der Gedächtnisforschung, dass die Leopoldina-Frage zu statisch ist. Sie unterstellt, dass eine Person irgendwann fertig wäre. Ein Mensch aber entwickelt sich sein Leben lang weiter, denn sein Gehirn ist plastisch.
Genauso wenig gibt es den Punkt null, an dem die Prägung eines Menschen beginnt. Schließlich spiegeln sich bereits im Genom Millionen Jahre Evolution, woran etwa der Paläogenetiker Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie erinnerte. Er wies darauf hin, dass nach neueren Analysen ein paar Prozent Neandertal-Gene auch noch im modernen Menschen stecken.
Scheidungsbereitschaft in den Genen
Eher skeptisch verwahrte sich der Psychologe Eric Turkheimer von der University of Virginia gegen die Annahme, dass das ererbte Genom auch über komplexe Dinge wie Scheidungsbereitschaft oder politische Ansichten bestimme. Humangenetiker hatten derartiges zeitweise behauptet, doch die Datenlage gebe das einfach nicht her, versicherte Turkheimer.
Mit eindrucksvollem Studienmaterial konnten hingegen mehrere Forscher belegen, wie bereits im Mutterleib Weichen fürs Leben gestellt werden. Andreas Plagemann von der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner Charité berichtete, wie sich Übergewicht, Bewegungsmangel und Stoffwechselerkrankungen während der Schwangerschaft auf die Feten auswirkt. Sie erreichen ein höheres Geburtsgewicht, das wiederum im späteren Leben das Risiko für Übergewicht drastisch erhöht. Das ist mehr als nur ein hypothetisches Risiko in einem Land wie Deutschland, in dem nach Angaben Plagemanns mittlerweile die halbe Bevölkerung übergewichtig ist. Besonders beunruhigend ist außerdem: Im Mäuseversuch finden sich Hinweise, wonach etwa Schwangerschafts-Diabetes nicht nur auf das Kind, sondern weiter an die Enkel vererbt wird.
Dies ist ein erneuter Beleg für die revolutionäre Erkenntnis, die sich in der Biologie durchgesetzt hat: Offenbar gibt es entgegen den Annahmen der klassischen Genetik Mechanismen, wie sich erworbene Eigenschaften vererben können. Die sogenannte Epigenetik beschreibt, wie Umweltfaktoren die Aktivität von Genen beeinflussen, auch über Generationen hinweg.
Diese Prozesse können auch durch die Erfahrung von extremem Stress und Gewalt in Gang gesetzt werden, wie der Neuropsychologe Thomas Elbert von der Universität Konstanz darlegte. Er erforscht mit seinem Team im Labor und in den Krisengebieten der Welt, wie sich extreme Gewalt in Gehirn, Geist und Genom niederschlägt. Elbert und andere Forscher konnten nachweisen, dass Partnergewalt eine schwangere Frau derart unter Stress setzt, dass über biochemische Prozesse auch das ungeborene Kind dauerhaft geschädigt werden kann. Es wird eher zum Borderliner werden, ängstlicher und hyperaktiver sein, anfällig für Drogen; vermutlich ändert sich auch das Aktivitätsmuster seiner Gene.
Natürlich belasten traumatische Erfahrungen gerade auch Kinder und Jugendliche. Elbert hat dies unter anderem bei Kindersoldaten in Ruanda untersucht, die häufig die Ermordung ihrer Geschwister und Eltern erlebt haben, oder diese selber töten mussten. Sie entwickeln ein, so Elbert, "heißes Gedächtnis", bei dem sich ein assoziatives Schreckens-Netzwerk ohne Zeit und Ort ins Gehirn einbrennt. Gespeichert sind Bilder, Gerüche und Szenen, verbunden mit schrecklichen Emotionen, die selbst durch kleine Anlässe immer wieder ausgelöst werden. Das ist der Grund, wieso in manchen Ländern relevante Teile der Bevölkerung psychotisch gestört in den Hütten sitzen und deren Schicksal den Wiederaufbau der Gesellschaft behindert - eine dunkle Wechselwirkung zwischen Geist und Gesellschaft.
Wieso erkranken Menschen, die in der Stadt geboren wurden, häufiger an Schizophrenie?
Doch sogar Elbert hat eine gute Botschaft zu verkünden, die mit der vom Biopsychologen Güntürkün bedauerten Formbarkeit der Erinnerungen zu tun hat. Wenn man im Rahmen einer speziellen Therapie die traumatischen Erinnerungen wieder aufruft und durcharbeitet, lassen sich diese recht erfolgreich wieder an die konkrete Situation rückbinden und ins "kalte Gedächtnis" abspeichern. Das erlaubt vielen Traumatisierten, wieder ein einigermaßen normales Leben zu führen. "Psychotherapie ist so mächtig", sagte Elbert, "dass der Geist auch die Hardware ändert."
Psychisch krank werden Menschen aber natürlich nicht nur in Extremsituationen. Darauf wies ZI-Direktor Andreas Meyer-Lindenberg hin, der nicht nur an Stofftieren geforscht hat. Er betonte die Bedeutung normaler sozialer Umweltfaktoren. So konnte er mit seinem Team in bahnbrechenden Experimenten belegen, wie etwa die vergleichsweise banale Angst um den sozialen Status bestimmte Gehirnregionen und Schaltkreise unter Stress setzt, die mit dem Ausbruch von Depressionen in Verbindung gebracht werden.
Überraschend, so Meyer-Lindenberg, sind auch zwei weitere, mittlerweile gut belegte Phänomene: Menschen, die in der Stadt geboren wurden, haben ein Leben lang ein um 300 Prozent erhöhtes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken - selbst dann, wenn sie später auf das Land ziehen. Auch bei Migranten weltweit ist die Schizophrenierate um 200 Prozent erhöht. Liegt dies auch am Stress? An der Diskriminierung? Aber wieso zeigen auch integrierte Migranten der zweiten Generation diese Anfälligkeit? Im Rahmen der neuen Disziplin der Neurogeografie wollen die ZI-Wissenschaftler nun der Frage nachgehen, welche Aspekte der Stadt krank machen.
Dann wäre zumindest eine weitere Wechselwirkung im Rahmen der Ausgangsfrage geklärt: Ja, die Gesellschaft kann aus Gründen, die man finden wird, den Geist krank machen. Womit aber die größte Frage überhaupt noch offen bleibt: Was genau ist denn überhaupt der Geist?
Wer ist Träger des Bewusstseins?
Wovon reden wir überhaupt, wenn wir ständig vom Geist reden? Sollten wir nicht etwas bescheidener anfangen und erst mal überlegen, wer denn diese Träger des Bewusstseins sind? Dafür plädierte der Psychologe Wolfgang Prinz, Ex-Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig: "Was sind überhaupt Subjekte? Wie unterscheiden sich Subjekte von Nicht-Subjekten? Und können Subjekte aus Wesen hervorgehen, die keine Subjekte sind?"
Prinz skizzierte eine elegante Theorie, die davon ausgeht, dass Subjektivität ebenso eine Naturtatsache wie eine soziale Tatsache sei. Soll heißen: Schon das neugeborene Baby nimmt sich aus biologischen Gründen irgendwie wahr, aber erst in der sozialen Interaktion mit den anderen und deren Imitation erfährt es sich als soziales Subjekt und konstituiert sein Ich: Das Selbst erscheint erst im Spiegel der anderen. Solche Spiegelmechanismen seien mehr als eine Metapher, wie etwa die Entdeckung der Spiegelneuronen belege oder die Tatsache, dass Menschen am Konferenztisch die Körperhaltungen der anderen unwillkürlich nachahmen. Solche Spiegelmechanismen konstituierten Gesellschaft, in der letztlich auch Spiegelpolitik betrieben werde und sich jedes Subjekt fragte: Darf ich mitspiegeln?
Alles klar?
Wie gut, dass die Veranstalter auch noch Michael Pauen eingeladen hatten, der an der Berliner Humboldt-Universität die Philosophie des Geistes lehrt und zu epistemischer Demut riet. Schon richtig, sagte er, es gebe Riesenfortschritte im Labor, doch die würden immer nur neue Probleme aufwerfen. Selbst bei den neuen Megaprojekten der Hirnforschung wie etwa dem milliardenteuren Human Brain Project in Lausanne sei ein Durchbruch nicht absehbar. Dort habe man gerade mal eine Funktionseinheit des Rattengehirns im Computer simuliert, das menschliche Gehirn besitze aber eine Million solcher Einheiten mit jeweils der sechsfachen Zahl an Neuronen.
Es sei noch nicht einmal klar, was genau man erforschen wolle, sagt Pauen. Immer noch seien alle Theorien des Bewusstseins primär metaphorisch, ohne dass sich diese annäherten, empirisch seien sie nicht zu fassen. Wir wüssten also gar nicht so genau, was wir meinen, wenn wir von unserem Ich reden und fragen, wie wir zu diesem gekommen seien. Das Fazit: "Wir wissen noch nicht, was wir nicht wissen."