Süddeutsche Zeitung

Bevölkerungsentwicklung:Gigantischer Zuwachs an Lebenserwartung

In den Industrienationen ist die Lebenserwartung in den letzten vier Generationen in einem Ausmaß gestiegen, das selbst Experten überrascht. Das zeigt ein Vergleich heutiger und historischer Populationen.

Christina Berndt

Trotz neuer Viren, grausamer Kriege und psychischer Erkrankungen: Menschen leben heute so lang wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Besonders rasant ist die Lebenserwartung in den letzten vier Generationen gestiegen - und zwar in einem Ausmaß, das selbst Experten für Bevölkerungsentwicklung überrascht, wie Oskar Burger, Annette Baudisch und James Vaupel vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock jetzt berichten (PNAS, online).

Für ihre Studie haben sie die Lebenserwartung heutiger und historischer Populationen miteinander verglichen. Dabei dienten ihnen Jäger-und Sammler-Populationen, wie es sie noch in Afrika und Asien gibt, als Maßstab für die Jäger und Sammler in früherer Zeit.

Zwar gebe es zwischen den Menschen in den reichen Industrienationen und weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen auch heute noch große Unterschiede in der Sterblichkeit, schreiben die Autoren: Aber die Mortalität sei insgesamt "so substantiell gesunken, dass der Unterschied zwischen den Jägern und Sammlern und heutigen Populationen mit der höchsten Lebenserwartung immer noch größer ist als der Unterschied zwischen Jägern und Sammlern und wild lebenden Schimpansen".

Ihren Analysen zufolge haben die modernen Menschen die meisten Lebensjahre erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewonnen, als Medikamente und Nahrungsmittel immer besser verfügbar waren. Somit profitieren vor allem die letzten vier Generationen - also nur vier der etwa 8000 Generationen von modernen Menschen, die je auf der Erde gelebt haben.

Noch im 19. Jahrhundert gab es in Schweden - neben Japan eins der Länder mit der höchsten Lebenserwartung - Todesraten, die näher bei den Jägern und Sammlern lagen als bei den Schweden von heute, so Burger, Baudisch und Vaupel. Die Verbesserungen der jüngeren Vergangenheit seien auch deshalb bemerkenswert, weil die Todesraten der Jäger und Sammler im Vergleich zu Affen oder Landsäugetieren bereits "außergewöhnlich niedrig" gewesen seien.

So hat ein wilder Schimpanse im Alter von 15 Jahren das gleiche Sterberisiko wie ein Jäger und Sammler mit 63 Jahren. Diese Menschen lebten sogar länger als Schimpansen in Gefangenschaft, die bei gutem Futter und ohne Feinde maximal 50 Jahre alt werden.

Gleichwohl ist der jüngste Zuwachs an Lebenserwartung in den Industrienationen gigantisch: Ein 30-Jähriger aus einer Jäger-und-Sammler-Kultur blickt dem Tod mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ins Auge wie ein 72-jähriger Japaner.

Selbst im Labor haben Wissenschaftler einen solchen Zuwachs an Lebenszeit bei Tieren nie feststellen können. Bei Fliegen zum Beispiel erreichten Alternsforscher in einem klassischen Experiment eine Verlängerung der Lebenserwartung um 30 Prozent in 15 Generationen, wenn sie gezielt nur Eier von Tieren ausbrüteten, die besonders alt geworden waren. Das entsprach einem Gewinn von nicht einmal zwei Prozent pro Generation. In einem weiteren Experiment wuchs die Lebenserwartung in 13 Generationen um 100 Prozent - entsprechend einem Plus von etwa fünf Prozent.

Das ist wenig im Vergleich zu Menschen der westlichen Welt: Während Jäger und Sammler nur auf 31 Jahre hoffen konnten und die Schweden des Jahres 1800 auf 32 Jahre, lag die Lebenserwartung in Schweden im Jahr 1900 bereits bei 52 und heute bei 82 Jahren. Das entspricht einem Plus von zwölf Prozent pro Generation.

Wie sich das erklären lässt? Und wie lange dieser Zuwachs noch so weitergehen wird? Diese Antworten konnten auch die Rostocker Forscher nicht liefern.

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Quelle:
SZ vom 17.10.2012/mcs
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