Behandlungsfehler:Checkliste für Chirurgen

Vermeidbare Schäden und Todesfälle bei Operationen werden zu einem immer größeren Problem, warnt die WHO. Eine Checkliste soll die Zahl solcher Zwischenfälle nun verringern.

Werner Bartens

Der Mundschutz sitzt, das Skalpell liegt bereit. Doch der Chirurg schneidet noch nicht. Er bittet seine Kollegen zunächst um eine kurze Abstimmung. Wer ist dafür, dass wir hier Herrn Schneider vor uns haben? Sind sich alle einig, dass sein rechtes Bein operiert wird? Erst wenn die Ärzte die letzten Zweifel ausgeräumt haben, fließt Blut.

Behandlungsfehler: Weltweit finden jedes Jahr mehr als 234 Millionen chirurgische Eingriffe statt.

Weltweit finden jedes Jahr mehr als 234 Millionen chirurgische Eingriffe statt.

(Foto: Foto: dpa)

Ein solches Szenario mag grotesk erscheinen. Ginge es nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO), müssten sich Chirurgen jedoch womöglich daran gewöhnen.

Die WHO hat gerade neue Empfehlungen vorgestellt, um Operationen sicherer zu machen. Ein Punkt auf der Checkliste ist der Rat an alle Mitglieder des OP-Teams, sich unmittelbar, bevor das Skalpell angesetzt wird, nochmals der Identität des Patienten zu vergewissern.

Auch soll jeder Arzt überpüfen, ob er für diesen Eingriff eingeteilt ist. So soll sichergestellt werden, dass der richtige Kranke an der richtigen Stelle operiert wird.

"Vermeidbare Schäden und Todesfälle bei Operationen werden zu einem immer größeren Problem", sagt Margaret Chan, Generaldirektorin der WHO. "Mit Hilfe der Checkliste kann man chirurgische Fehler vermindern und die Sicherheit für die Patienten verbessern."

Zeitgleich mit den neuen Empfehlungen zeigen Harvard-Mediziner im Fachblatt Lancet (online) die Dimension der Gefährdung auf. Weltweit finden demnach jedes Jahr mehr als 234 Millionen chirurgische Eingriffe statt.

Zwischenfälle bei bis zu 16 Prozent der Operationen

In industrialisierten Ländern kommt es bei drei bis 16 Prozent der Operationen zu größeren Zwischenfällen. Bleibende Schäden und Todesfälle kommen bei 0,4 bis 0,8 Prozent der Eingriffe vor.

In ärmeren Nationen ist die Komplikationsrate weitaus höher. In Entwicklungsländern sterben fünf bis zehn Prozent der Menschen, die eine größere Operation über sich ergehen lassen müssen. In einigen Gegenden südlich der Sahara fällt einer von 150 Operierten allein der Narkose zum Opfer.

Neben der Identifikation des richtigen Eingriffs und des richtigen Patienten beinhaltet die Checkliste, dass zu operierende Körperteile mit wasserfestem Stift markiert werden. Zudem sollten Antibiotika innerhalb von 60 Minuten nach dem ersten Schnitt gegeben werden, um das Infektionsrisiko zu verringern.

Patienten sollten außerdem befragt werden, ob sie bestimmte Medikamente nicht vertragen. Bei Operationen, die mit größeren Blutverlust einhergehen könnten, sollten zwei venöse Zugänge gelegt werden. Zudem wird empfohlen, nach dem Eingriff alle Tupfer, Schwämme, Haken und anderes Operationsbesteck zu zählen, damit nichts im Körper verbleibt.

"Bisher haben drei Länder - Großbritannien, Irland und Jordanien - zugesagt, dass sie die Checkliste für ihre Krankenhäuser übernehmen wollen", sagt der Harvard-Mediziner Atul Gawande, der die Empfehlungen mit ausgearbeitet hat.

Checkliste für Chirurgen

Die Checkliste passt auf eine DIN-A4-Seite und ist in drei Fraben gehalten. Sie stehen für die Phase des Eincheckens (vor der Operation), die Operation selbst und das Auschecken (nach der Operation). Für viele Chirurgen in Deutschland sind die Empfehlungen selbstverständlich - zumindest theoretisch.

Die dreckige Hälfte

"Wissen tun es alle, aber in der konkreten Situation wird es oft nicht gemacht", sagt Matthias Schrappe, Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, das 2005 gegründet wurde. "Manche Chefärzte glauben ja, dass sie allein deswegen sterile Hände haben, weil sie Chefärzte sind."

Von den etwa 500.000 Infektionen, die sich Patienten jedes Jahr in deutschen Krankenhäusern zuziehen, könnten nach Einschätzung Schrappes ein Drittel bis die Hälfte verhindert werden, wenn einfachste Hygieneregeln eingehalten würden. "Bevor Verbände oder Katheter gewechselt werden, muss man sich die Hände richtig desinfizieren", sagt Internist Schrappe. "Viele Studien zeigen aber, dass sich nur etwa 50 Prozent der Ärzte daran halten."

Obwohl jeder Arzt weiß, wie Verwechselungen zu vermeiden sind, werden in Deutschland jedes Jahr 100 bis 200 Organe und Körperteile fälschlicherweise operiert - der linke statt der rechte Lungenflügel wird entfernt, am rechten statt am linken Knie der Meniskus glattgehobelt. "Auch hier könnte man mindestens die Hälfte der Zwischenfälle vermeiden", sagt Schrappe. "Man muss nur den einfachen Maßnahmen die höchste Priorität einräumen."

Hier sei besonders die Vorbildfunktion der Chefärzte gefragt, um die andere Hälfte der Ärzte zu erreichen, die Grundregeln nicht befolgt. So müsse aufgezeigt werden, welche Tragweite die scheinbar banalen Empfehlungen der Checkliste haben. Zeitmangel dürfe keine Ausrede sein, wenn es darum geht, Todesfälle zu verhindern.

Neu sind die Vorschläge zwar nicht. Ignaz Semmelweis hat schon vor 160 Jahren entdeckt, dass Patientenleben gerettet werden, wenn Ärzte sich die Hände desinfizieren. "Trotzdem ist es neu und begrüßenswert, dass in Deutschland seit wenigen Jahren offen über vermeidbare ärztliche Fehler diskutiert wird", sagt Schrappe.

Der Chirurg Patchen Dellinger von der Universität Washington, der daran beteiligt war, die Checkliste der WHO auszuarbeiten, hat immer wieder die gleiche Reaktion von medizinischen Laien gehört. Sobald er über das Thema redete, war die erste ungläubige Rückfrage: "Soll das etwa heißen, dass ihr alle diese Dinge vorher nicht berücksichtigt habt?"

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: