200 Jahre Brailleschrift:Die Welt in sechs Punkten

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Eine spezielle Tastatur transkribiert digitale Texte in Brailleschrift. (Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Die Brailleschrift ist auch nach 200 Jahren noch modern. Denn ihr Prinzip ist einfach, doch die Einsatzmöglichkeiten sind schier grenzenlos.

Von Christina Berndt

Neulich am Hauptbahnhof in München dachte man, der Mann mit dem Blindenstock brauche Hilfe, als er nicht auf den Bahnsteig lief, sondern zur Metallabsperrung am Ende des Gleises. Aber er hatte sich nicht verlaufen, er wollte nur sicherstellen, dass er sich nicht verzählt hatte. Denn an dem Geländer befindet sich die Gleisnummer in tastbaren Punkten, der berühmten Brailleschrift.

Von Sehenden oft übersehen, ist die Brailleschrift heute fast überall. Sie markiert nicht nur die Gleise an Bahnhöfen, sondern auch viele Treppenaufgänge, hilft in Fahrstühlen, das richtige Stockwerk zu finden, und nummeriert Sitze in Zügen, sodass blinde Menschen auch nicht häufiger in „Das ist mein Platz“-Debatten verwickelt werden als sehende. Seit genau 200 Jahren bietet sie blinden Menschen nun schon Orientierung und ermöglicht ihnen das Lesen selbst komplexester Texte. Im Jahr 1825 hatte der Franzose Louis Braille die Schrift vorgestellt. Gefeiert wird am 4. Januar, dem Geburtstag Brailles, der als Dreijähriger durch einen Unfall erblindet und 1825 selbst erst 16 Jahre alt war.

Trotz Digitalisierung bleibt die Schrift wichtig

Die Brailleschrift sei bis heute von unermesslichem Wert, sagt Thomas Kahlisch, der Leiter des Zentrums für barrierefreies Lesen in Leipzig. „Die Schrift bringt blinden Menschen viel Selbstständigkeit.“ Immer noch, trotz Digitalisierung. „Wir nutzen natürlich Hörbücher und Podcasts, das ist eine große Erweiterung unseres Universums“, sagt Kahlisch. „Aber so, wie für Sehende die Schrift neben Audio- und Videomöglichkeiten wichtig bleibt, ist sie für blinde Menschen die einzige Form, etwas schriftlich aufzunehmen, selbst zu verfassen und es orthografisch richtig umzusetzen.“ Dabei ist die Brailleschrift selbst längst in der Digitalisierung angekommen. Mit Computer oder Smartphone lassen sich sogenannte Braillezeilen verbinden, eine Art Tastatur, die digitale Texte in fühlbare Texte transkribiert. Dazu kommen kleine Stifte aus Löchern und bilden die Punktmuster.

So einfach die Brailleschrift ist: Ihre Einsatzmöglichkeiten sind schier grenzenlos. Die Punkte sind in zwei Dreierreihen wie in einem Eierkarton für sechs Eier angeordnet, der an immer anderen Plätzen mit Eiern gefüllt ist. So ergeben sich 64 mögliche Kombinationen. Sie können für Buchstaben und Ziffern stehen, aber auch für Silbenzeichen, sodass sich Alphabet-Sprachen wie Russisch, Georgisch und Arabisch ebenso in Braille transkribieren lassen wie Japanisch und Chinesisch. Selbst mathematische und chemische Formeln gibt es in Braille-Notierung, ebenso wie Strickmuster und Musiknoten.

Ein Nachteil bleibt allerdings: Damit man ihn gut fühlen kann, braucht ein Braille-Buchstabe mehr Platz als etwa ein lateinischer. Deshalb entspreche eine „Schwarzschriftseite“ fünf Seiten in Brailleschrift, wie die Bibliothekarin Ellen Taubner von der Emil-Krückmann-Bücherei in Marburg dem Evangelischen Pressedienst sagte. Wer die Schrift schon als Kind lernt, fliegt mit seinen Fingern nur so darüber. „Erwachsene tun sich oft schwerer, aber es lohnt sich“, sagt Kahlisch. Den Wert von Spielkarten erfassen, das richtige Medikament nehmen, Fremde am Bahnhof überraschen: „Es muss ja nicht gleich der dicke Roman sein.“

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