Biologie:Der Mikroben-Versand

Biologie: Bakterien lieben ganz verschiedene Nährböden. Manche fühlen sich auf Tomatensaft wohl.

Bakterien lieben ganz verschiedene Nährböden. Manche fühlen sich auf Tomatensaft wohl.

(Foto: DSMZ)
  • Braunschweiger Leibniz-Institut DSMZ lagern 65 000 verschiedene Batkerien-, Viren- oder Pilzarten.
  • Wissenschaftler aus aller Welt können sie bestellen.

Von Andrea Hoferichter

Zwei Kellerräume, reihenweise graue Schubladenschränke, kalte zehn Grad Celsius. Das könnte auch ein Amtsarchiv sein. Doch statt Akten schlummern hier Bakterien, Viren und Pilzkulturen, gefriergetrocknet wie löslicher Kaffee und gut verpackt in Glasampullen. Rund 65 000 verschiedene Arten sind vorrätig. "Das ist unsere Schatzkammer", sagt Elke Melenk, die hier am Braunschweiger Leibniz-Institut DSMZ (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen) in der Logistik arbeitet. Das als gemeinnützig anerkannte Institut sammelt und konserviert die mikroskopisch kleinen "Schätze", betreibt damit eigene Forschung - und ist eine Art Amazon für Wissenschaftler weltweit, die im Online-Shop Mikroben per Mausklick bestellen können, natürlich nur unter Auflagen.

Dutzende Mal am Tag holen Melenk und zwei Kolleginnen Ware aus dem Keller und verpacken sie für den Versand, inklusive Lieferschein, Qualitätszertifikat und einer Art Bedienungsanleitung, wie man die Kulturen zum Leben erweckt. "Und wir müssen kontrollieren, ob die Ware angekommen ist. Eine Menge Papierkram", berichtet Melenk. Etwa 40 000 "Bioressourcen" gehen jedes Jahr an rund 10 000 Kunden in 90 Ländern raus. Der Verkauf, der hier unter "Buyodiversity" läuft, deckt etwa ein Drittel der Kosten für die Sammlung und Forschung des Instituts. Der Rest wird aus öffentlichen Fördergeldern und Drittmitteln bestritten.

"Das Wichtigste für uns ist, eine möglichst große Vielfalt an biologischen Ressourcen vorzuhalten", und in dieser Hinsicht sei die Sammlung weltweit einzigartig, sagt Jörg Overmann, der wissenschaftliche Direktor des Instituts. Die Vielfalt sei wichtig, um zum Beispiel zu verstehen, welche Rolle Mikroorganismen bei der natürlichen Produktion von Treibhausgasen spielen, wie sie Nährstoffe verarbeiten und wie sie die Gesundheit von Mensch und Tier beeinflussen. Mikroorganismen könnten zudem für Zukunftstechnologien genutzt werden, etwa für pharmazeutische Wirkstoffe oder Biotreibstoffe, für den Schadstoffabbau in Böden und Gewässern und die Produktion von Biokunststoffen. "Biochemisch gesehen haben sie definitiv mehr Potenzial als Menschen oder Tiere", ist der Wissenschaftler überzeugt.

Der süßlich-modrige Geruch der warmen Substrate ist in den Gängen zu riechen

Ein großer Teil des Institutsalltags besteht darin, Kulturen anzulegen und zu charakterisieren, unter anderem unter dem Mikroskop und mit genetischen Analysen. Dazu vermehren die Wissenschaftler die Mikroorganismen in Petrischalen bei Temperaturen bis zu 100 Grad Celsius. Der süßlich-modrige Geruch der warmen Substrate ist in den Gängen zu riechen. Als Nährmedien kommen üblicherweise das Algenkohlenhydrat Agar-Agar, Zucker und individuell gewählte Komponenten zum Einsatz: Manche Winzlinge gedeihen mit einem Schuss Tomatensaft besonders gut. Und nicht zuletzt speisen die Wissenschaftler die Eigenschaften einer Art, aus eigenen Untersuchungen und aus der wissenschaftlichen Literatur, in eine dafür entwickelte, öffentlich zugängliche Datenbank.

Die DSMZ beherbergt etwa 30 000 und damit rund 80 Prozent aller zurzeit bekannten Bakterienarten. "Davon sind übrigens nur 500 bis 600 krankheitserregende Arten", sagt Overmann. Besonders exotisch ist eine Sammlung von Mikrobenstämmen der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die auf Geräten aus hochsterilen Reinräumen und Raumfahrzeugen gefunden wurden. Und immer wieder kommen neue Bakterienarten hinzu, denn bisher ist nur ein winziger Bruchteil bekannt. Schätzungen zufolge gibt es zwischen zehn Millionen bis zu einer Milliarde verschiedene Bakterienarten. Das Institut hat außerdem gut 5200 Pilz- und Hefearten auf Lager, mehr als 10 000 Typen isolierte DNA und zahlreiche Pflanzenviren, vor allem aus den Tropen. Überall, wo neue Krankheiten auftreten, nehmen die Forscher Proben, isolieren die Erreger und entwickeln Antiseren, mit deren Hilfe etwa der Zoll bei Importkontrollen befallene Pflanzen erkennen kann.

Auch Krebsforscher kaufen bei der DSMZ ein, denn hier lagern Zellkulturen verschiedenster Gewebearten, sogenannte Zelllinien. Mit DSMZ-Zelllinien haben Wissenschaftler aus den USA in den 1990er-Jahren ein Leukämiemedikament entwickelt, das im Gegensatz zu Chemotherapeutika gezielt an den Krebszellen wirkt. Ebenfalls von medizinischem Interesse sind Bakteriophagen. So werden Viren genannt, die Bakterien vernichten können und als mögliche Antibiotika-Alternative im Kampf gegen multiresistente Keime gelten. Die Forscher spüren sie unter anderem in Schlammpfützen und Kläranlagen auf.

Vor allem die Qualität der Kulturen macht den Wert der Sammlung aus

"Forschungstrends können sich aber auch immer mal wieder ändern", sagt Overmann. Es bringe deshalb nichts, nur auf "Kassenschlager" zu setzen, Vielfalt sei wichtiger. "Wir diskutieren immer wieder mit internationalen Experten darüber, welche Arten in Zukunft interessant werden könnten", betont er.

Neben der Vielfalt macht vor allem die Qualität der Kulturen den Wert der Sammlung aus, denn Verunreinigungen oder schlicht die Zeit hinterlassen Spuren. Bakterien zum Beispiel mutieren, das heißt Erbgut und Eigenschaften ändern sich ganz ohne äußeres Zutun. "Nach einem halben Jahr im Laborkühlschrank hat man eine ganz andere Kultur vorliegen", so Overmann. Um das zu verhindern, werden viele Kulturen in mit flüssigem Stickstoff gefüllten Edelstahlkesseln gelagert, bei minus 196 Grad Celsius. "Eine Art Frostschutzmittel sorgt dafür, dass sich keine Eiskristalle bilden, die Zellmembranen sprengen könnten", sagt Overmann. In diesem Zustand seien die Mikroben praktisch für die Ewigkeit konserviert. Alle paar Jahre kontrollieren die Wissenschaftler, ob die Winzlinge noch lebendig sind und die gleichen Eigenschaften haben wie vor der Einlagerung.

Overmann ist überzeugt, dass sich der Aufwand lohnt. "Es kostet in der Regel nur drei Euro pro Jahr, von jeder Art eine Stammprobe vorzuhalten. Das ist ein überschaubarer finanzieller Aufwand", betont er. Eine Spezies aus ihrer natürlichen Umgebung zu isolieren, schlage schnell mit rund 10 000 Euro zu Buche. Gleichwohl wolle man die Effizienz noch steigern. Zum Beispiel sollen in Zukunft Roboter das Ein- und Auslagern der Ampullen übernehmen und ganze Bestellungen zusammensuchen, ähnlich wie vollautomatisierte Medikamentenlager in Apotheken.

Ein Prototyp, eine knallblaue Kiste vom Format eines Kleinlasters, arbeitet schon auf Probe. Im nächsten Jahr wird er wie die Winzlinge im Keller zum Vorzeigeobjekt. Dann feiert die Sammlung ihr 50-jähriges Bestehen.

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