Süddeutsche Zeitung

Babysprache:Das Fäustchen dreimal auf und zu

Manche Eltern wollen nicht warten, bis ihre Babys sprechen können und versuchen, ihnen vorher eine Zeichensprache beizubringen. Unsinn, sagen Forscher.

Elke Brüser

Die erste einem Wort ähnliche Tonschöpfung kommt Babys meist mit etwa einem Jahr über die Lippen. Von da an dauert es noch eine ganze Weile, bis die Kleinen wirklich mitteilen können, was sie möchten.

So lange wollen viele Eltern nicht warten. Schon früh trainieren sie mit ihren Babys eine Zeichensprache, damit das Kind mitteilen kann, was ihm seine Zunge noch verweigert.

Landauf, landab werben die Anbieter entsprechender Kurse mit vollmundigen Versprechen: Die Kleinen seien "viel ausgeglichener und zufriedener", schreibt Vivian König, die solche Kurse anbietet und mehrere Bücher über Babyzeichensprache geschrieben hat; der Wortschatz und das Interesse an Büchern entwickelten sich bei den Kindern besser, sagt sie - und sogar die Bindung an die Eltern.

An Vorteilen für Eltern soll es auch nicht mangeln: Sie "erleben weniger Frustration" und "hören weniger Geschrei und Weinen".

Es klingt zunächst plausibel. Könnte das Leben nicht viel einfacher sein, wenn das Baby im Hochstuhl statt zu meckern ein Zeichen für "Milch" oder "Banane" macht? Eben diese Erwartung bedienten die US-amerikanischen Erfinder von Babyzeichensprache von Anfang an.

Doch Fachleute zeigen sich skeptisch. Zwischen Eltern und Säuglingen bestehe "keineswegs ein Kommunikationsnotstand", schreibt beispielsweise der Schweizer Kinderarzt Remo Largo, der eine bedeutende Langzeitstudie zur Kindesentwicklung durchgeführt hat, in seinem angesehenen Ratgeber "Babyjahre". Kinder kommunizierten "schon vom ersten Lebenstag an in vielfältiger Weise mit ihrer Umgebung".

"Sprechen ist mehr, als Dingen ein Etikett zu verpassen"

"Auf Studien, die all die Versprechen der Kursanbieter belegen, warten wir noch", sagt auch Ulf Liszkowski vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen. Als Experte für die Rolle von Zeigegesten beim Sprechenlernen, will der Leiter der Arbeitsgruppe Vorsprachliche Kommunikation experimentelle Ansätze entwickeln und sichere Daten gewinnen.

Seit mehr als 20 Jahren wissen Säuglingsforscher, dass die Verständigung auch ohne spezielles Gebärdentraining gelingt. Ein Baby kommuniziert, wenn es seine Augen schließt (um abzuschalten), wenn es sich anschmiegt oder lächelt (und so mitteilt: Mir geht's gut) oder wenn es den Blick auf etwas richtet (das finde ich spannend).

Dass die angelernten Zeichen die Bindung zwischen Eltern und Kind verbessern sollen, hält Claudia Thoermer vom Institut für Entwicklungspsychologie an der Universität München für Unsinn: "Das ist ein Verkaufsversprechen ohne wissenschaftliche Basis", sagt sie. Ohnehin nutzen die wenigsten Babys die Zeichen intensiv, bevor sie sprechen können.

Obwohl oft versichert wird, dass Kinder 50, 100 oder sogar 200 Gebärden lernen können, wenn erst einmal ein Handzeichen funktioniert, sind es meist deutlich weniger. Das hat die Sprachwissenschaftlerin Ginger Pizer von der Universität Texas in Austin veranschaulicht.

Die von ihr untersuchten Kinder hatten bereits vor oder kurz nach ihrem ersten Geburtstag begonnen, Gebärden zu lernen und verwendeten im Verlauf des zweiten Lebensjahres etwa 20, 30 Handzeichen. Doch sie begleiteten die Gesten häufig mit einem Sprachlaut und vernachlässigten die Gesten, je mehr sie anfingen zu sprechen.

Die Ergebnisse kann die Münchnerin Adelheid Beck aus eigener Erfahrung bestätigen: Sie hat mit ihrer Tochter Amelie vom achten Lebensmonat an einen Kurs für Babyzeichensprache besucht. "Erst mit zehn Monaten hat Amelie ein erstes Zeichen gemacht", sagt Beck. Mehr als ein Dutzend sind es nicht geworden, denn bald kam das erste Wort aus ihrem Mund; und nun, mit 19 Monaten, kann Amelie mehr Wörter sprechen, als sie mit Handzeichen ausdrücken kann.

"Was hat das mit Sprechen zu tun?"

Dennoch hat die Mutter den Kurs in guter Erinnerung: "Alles war sehr spielerisch. Es hat uns richtig Spaß gebracht", sagt sie. Aber lohnt sich dafür der Zeit- und Geldaufwand von 60 Euro für zwölf Kursstunden? Und welchen Sinn soll es haben, mit knapp Einjährigen Handzeichen zu üben, wenn sie kurz danach anfangen zu sprechen?

In der Tat können die Kleinen früher Handzeichen machen als Worte artikulieren, weil die Kontrolle der Mundwerkzeuge langsamer heranreift. Das einjährige Kind kann nicht "Vogel" sagen, aber durchaus mit den Armen eine Vogelgebärde machen.

"Nur, was hat das mit Sprechen zu tun?", fragt der Psycholinguistiker Liszkowski. "Sprechen ist mehr, als dem Vogel ein Etikett zu verpassen." Ein Sprecher hat innere Beweggründe und will bei seinem Gesprächspartner etwas erreichen.

Kleine Kinder sagen "Auto" nicht nur, um ein Objekt zu benennen. "Auto" kann auch heißen: "Ich will das Auto haben", "das Auto fährt schnell", "es sieht klasse aus" oder "Oma hat genauso eins".

Dass Babys im ersten Lebensjahr Handzeichen überhaupt wie Worte benutzen können, bezweifelt Liszkowski. Zuvor muss nämlich jedes Kind zweierlei begriffen haben: Erstens, dass man mit seinem Verhalten die Wahrnehmung, das Denken und Handeln anderer beeinflussen kann, und zweitens, dass das nur geht, wenn der andere aufmerksam ist.

Beides haben Kinder erst dann kapiert, wenn sie ihre universelle und beliebteste Zeigegeste anwenden, die keinesfalls trainiert werden muss: das Deuten. Deutet das Kind auf etwas, dann nimmt der aufmerksame Erwachsene darauf Bezug.

Dass man sich gemeinsam auf etwas bezieht, ist für Ulf Liszkowski eine Art Startschuss für das Sprechen - unabdinglich für den sprachlichen Dialog. Und tatsächlich fügen Kinder nach einigen Monaten des Zeigens ihren Zeigegesten Worte bei. Autistische Kinder, die nicht kommunizieren mögen, verweigern auch als Babys die Zeigegesten.

In Deutschland versuchen vor allem zwei junge Mütter, aus dem zunehmenden elterlichen Interesse an jeglicher Art von Frühförderung Kapital zu schlagen: Neben Vivian König, die das Markenzeichen Zwergensprache gegründet hat, ist das die Pädagogin Wiebke Gericke mit der Marke babySignal.

Beide beziehen sich auf US-Psychologen, die in den 1980er Jahren - motiviert durch Erfolge mit der Gebärdensprache in Familien mit gehörlosen Mitgliedern - auch bei hörenden Babys und Eltern einfache Gebärden ausprobierten.

Die Zwergensprache orientiert sich vor allem an der amerikanischen Gebärdensprache. Demgegenüber basiert babySignal stärker auf Ideen der kalifornischen Entwicklungspsychologinnen Michelle Anthony und Reyna Lindert.

Die amerikanischen Psychologinnen Susan Goodwyn und Linda Acredolo haben versucht, Langzeiteffekte von Gebärdentraining zu erfassen. Vor acht Jahren erregten sie auf einem Kongress mit einem Bericht über günstige Auswirkungen auf den Intelligenzquotienten (IQ) zwar Aufsehen; aber die Ergebnisse sind bis heute nicht wissenschaftlich publiziert - was Zweifel an der Studie nährt. Auf diversen Internetseiten wird dennoch ein IQ-Plus vermarktet.

Die Faust hinter dem Kopf heißt "Oma"

Die Nürnberger Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Rose Riecke-Niklewski ist jedoch sicher: Eltern versäumen nichts, wenn sie mit ihrem Kind keine kuriose Gebärden einstudieren. Sie fürchtet sogar, dass das Gebärdenpauken im Extremfall Schaden anrichten kann.

"Rechte Hand auf Brusthöhe zur Faust, Daumen nach oben, Faust dreimal öffnen und schließen wie beim Melken." So geht zum Beispiel das Zwergenzeichen für "Milch".

Weit entfernt von der Realität sind auch Gebärden wie ein Dutt auf dem Hinterkopf als Geste für Oma oder ein Schnauzer als Symbol für den Opa. "Zeigen Sie Ihrem Kind das Zeichen für Milch immer bevor Sie es stillen oder ihm das Fläschchen geben", rät Vivian König. Und zwei Seiten weiter steht, was sonst noch zu beachten ist: "Wählen Sie den richtigen Zeitpunkt. Benutzen Sie Ihre Mimik und übertreiben Sie dabei. Wiederholen Sie die Zeichen so oft wie möglich. Loben Sie Ihr Baby soviel es geht" und so weiter.

"Solange Eltern die Gesten rein spielerisch einsetzen, sehe ich keine Probleme", sagt Liszkowski. Doch mitunter setzten die Babyzeichenkurse Eltern und deren Babys auch unter Leistungsdruck.

"Nach acht Wochen Training noch keine Gebärde? Hat das Kind versagt? Oder die Mutter? Oder der Vater?", fragt Rose Riecke-Niklewski rhetorisch. Sie hält es für fragwürdig, dass Eltern notieren sollen, wann ihr Kind welche Gebärde das erste Mal richtig zustande gebracht hat. "Da wird ein hoher Erwartungsdruck erzeugt. Beim Kind können Versagensängste entstehen, und Eltern können in ihrer spontanen Interaktion nachhaltig gestört werden."

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SZ vom 08.08.2008/mcs
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