Süddeutsche Zeitung

Ausbreitung der Schweinegrippe:Der Tod fliegt durch die Luft

Fußballstadien bleiben leer, Soldaten verteilen Atemschutzmasken: Die Angst vor dem Virus hält Mexiko im Griff. Die Behörden in den USA versuchen unterdessen, Befürchtungen zu zerstreuen: "Wir haben Millionen Tamiflu-Tabletten."

P. Burghardt und J. Häntzschel

Auch in diesem Krieg gegen einen unsichtbaren Feind ist nun das Militär auf Mexikos Straßen unterwegs, sogar mitten in der Metropole. Durch andere Städte, besonders im Norden, patrouillieren seit Monaten ganze Bataillone, sie sollen die Drogenbarone und ihre Söldnerheere bekämpfen. Mehr als 5000 Morde wurden im vergangenen Jahr gezählt, und 2009 geht die Schlacht ums Rauschgift weiter.

Vor allem deshalb war kürzlich US-Präsident Barack Obama beim südlichen Nachbarn, mit dem die USA mehr als 3000 Kilometer Grenze teilen. Gemeinsam mit dem mexikanischen Kollegen Felipe Calderón will er die Kartelle besiegen. Doch jetzt verteilen Soldaten in Mexiko-Stadt auf einmal Gesichtsmasken. Plötzlich hat eine Gefahr beide Länder erreicht, die noch schwerer zu stoppen und noch gefährlicher sein könnte als Kokain und Auftragskiller.

Tausende Uniformierte bringen seit dem Wochenende diesen meist bläulichen Mundschutz aus Plastik und Stoff unters Volk, während die Riesenstadt teilweise zum Stillstand kommt. Es sind Bilder wie aus einem Katastrophenfilm. Der halbe Moloch mit seinen mehr als 20 Millionen Einwohnern im Großraum versucht, irgendwie seine Atemwege zu schützen.

"Notfall im internationalen Ausmaß"

Nicht vor den üblichen Abgasen, die Vulkane verschleiern und Augen brennen lassen. Gelbgrauen Smog ist man hier gewohnt, ebenso andere Belästigungen wie Verkehrsstaus, Überfälle, Entführungen und Erdbeben. Außer wirklich großen Erschütterungen wie den verheerenden Erdstößen von 1985 bringt diese Megalopolis kaum etwas aus der Ruhe. Auch diesmal reagiert man gefasst, dabei fliegt eine Bedrohung durch die Luft, die niemand kannte und die noch kaum einzuschätzen ist. Kürzel H1N1. In Windeseile gefürchtet unter dem Begriff Schweinegrippe.

Mindestens 86 Patienten waren bis Sonntagabend an dem rätselhaften Virus gestorben, an die 1400 galten als infiziert. Weltweit werden Horrorszenarien aufgezeigt und Strategien für die Verteidigung entwickelt. Die Krankheitswelle habe "das Potential einer Pandemie", erklärte in Genf Margaret Chang, die Direktorin der Weltgesundheitsorganisation WHO. Dies sei "ein Notfall der öffentlichen Gesundheit im internationalen Ausmaß".

Pessimisten erinnern an die Spanische Grippe, die einst 25 bis 50 Millionen Leben forderte. Überall tagen die Experten. Aus den USA werden erste Fälle gemeldet. In Neuseeland wurden zehn Schüler wegen grippeartiger Symptome unter Quarantäne gestellt. Mit dem BA-Flug 242 landete ein Passagier mit vermeintlich ähnlichen Symptomen in London. Die allermeisten Kranken indes kommen bislang aus Mexiko-Stadt.

Aus deren Gewirr stammt offenbar diese Schweinegrippe, die ähnlich wie vorher die asiatische Vogelgrippe selten und unversehens auf Menschen übergreift. Erst vor drei Tagen analysierte der Virologe Francis Plummer von der Universität Winnipeg Proben aus Mexiko und stellte fest: "Dieser Virus ist nicht nur neu für Menschen, sondern neu für die Welt." Opfer klagen über hohes Fieber, Husten, Gliederschmerzen, Übelkeit, die gewohnten Folgen einer schweren Erkältung. Dann kann es schnell gehen.

Bedeutung für Deutschland noch nicht einschätzbar

Der Wissenschaftler Felipe Solís des berühmten Archäologischen Museums von Mexiko-Stadt kam mit Schmerzen in Hals und Brust in eine Klinik, die erste Diagnose lautete: Lungenentzündung. Kurz darauf fiel er ins Koma und starb. Am 15. April hatte Solis bei dessen Staatsbesuch den US-Präsidenten Obama empfangen und ihm den Azteken-Kalender gezeigt.

Selbst an höchster Stelle gab das Weiße Haus in dieser Sache Entwarnung. Obamas Reise nach Mexiko habe ihn keinerlei Gefahr ausgesetzt, versicherte Sprecher Robert Gibbs. Die britische Gesundheitsbehörde sagte, momentan gebe es "weder in Großbritannien noch irgendwo sonst in Europa bestätigte Fälle der Schweinegrippe beim Menschen".

Das Robert-Koch-Institut in Berlin gibt zu, fürs erste sei die Bedeutung für Deutschland noch nicht einzuschätzen. Man könne aber nicht grundsätzlich ausschließen, dass Reisende die mexikanische Influenza eingeschleppt hätten. Mehrere Regierungen sprachen eine Reisewarnung für Mexiko aus. An Flughäfen quer über den Globus werden Kontrollen verstärkt. In Santiago in Chile wird bei Ankömmlingen der Maschinen aus Mexiko mit einem computergesteuerten Wärmesensor Fieber gemessen, Szenen wie bei der Aufregung um das Sars-Virus aus Fernost vor einigen Jahren.

"Wir tun alles Nötige"

Doch wie dämmt man diese Epidemie zunächst in einem Land mit 100 Millionen Menschen und einer der größten Städte der Welt ein? Wie wird die oft dicht gedrängte Bevölkerung sensibilisiert und gleichzeitig Massenpanik vermieden? "Wir tun alles Nötige", beruhigte Staatschef Calderón, der zuletzt meistens staatliche Effizienz im Drogenkrieg predigte.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie man in den USA mit der Schweinegrippe umgeht.

Praktisch über Nacht sind selbst diese Meldungen von Ermordeten und Verschleppten aus den Nachrichten verschwunden, es geht nur noch um Schweinegrippe, auf Spanisch Influenza de Porcina oder Gripe de Porcina. Mexikos Gesundheitsminister José Ángel Córdova ordnete die Schließung der Schulen bis zum 6. Mai an, zum Glück liegen dazwischen mehrere Feiertage.

Man werde in den kommenden zehn Tagen alle Zusammenkünfte vermeiden, die die Ausbreitung des Virus beschleunigen könnte, sagte Bürgermeister Marcelo Ebrard. Museen, Kinos und Theater wurden geschlossen, Hunderte Veranstaltungen abgesagt. Einen besonders gespenstischen Anblick boten leere Fußballstadien: Die Spiele zwischen den Klubs Pumas und Rekordmeister Guadalajara im Olympiastadion-und America gegen Tecos im Estadio Azteca fanden ohne Publikum statt.

Schließlich rang sich die Katholische Kirche dazu durch, die Messen sein zu lassen, auch in den gewaltigen Kathedralen von Guadalupe und dem Hauptplatz Zócalo in Mexiko-Stadt. Restaurants und Kneipen blieben leer.

"Es ist ja nicht wie bei E.T."

Manche Leute finden die Vorsichtsmaßnahmen ungenügend, andere halten sie für übertrieben. Doch wie schnell der Virus unterwegs ist, das zeigt sich auch 1121 Kilometer nördlich der Hauptstadt. Offenbar überschritt H1N1 die Grenze zu den USA. Einer der angeblich 20 Infizierten ist Hayden Henshaw aus der Kleinstadt Schertz in Texas.

Anfang der Woche klagte der 18-Jährige über Kopfschmerzen, Fieber und Halsweh. Nachdem sich zwei Kinder aus derselben, mittlerweile geschlossenen Schule angesteckt hatten, wurde auch Henshaw positiv getestet. Es geht ihm besser, dennoch steht seine ganze Familie unter Quarantäne: Henshaw soll für mindestens fünf Tage alleine in seinem Zimmer bleiben.

Seine Eltern und seine Schwester haben keine Symptome, dürfen das Haus aber nicht verlassen und sollen jeden Kontakt mit anderen vermeiden. Täglich stellt ein Verwandter das Essen vor die Tür. Die Henshaws tragen die Maßnahmen mit Fassung: "Es ist ja nicht wie bei E.T., wo ein Zelt über das ganze Haus gestülpt wird", sagte Henshaws Vater. "Es wäre schlimm, wenn wegen uns jemand krank würde." Infiziert haben sich die drei Schüler aus Texas wohl bei der Fiesta in San Antonio, die auch von vielen Mexikanern besucht wird.

Millionen Tamiflu-Tabletten

Auch bei einer Gruppe von Jugendlichen aus New York wurde das Virus festgestellt. Die Schüler der katholischen St. Francis Preparatory School im Bezirk Queens hatten ihre Frühjahrsferien am Strand der mexikanischen Urlaubsstadt Cancún verbracht, mit Sonne, Party und Corona. Acht der 15 Schüler kamen nun mit Grippesymptomen zurück. Auch bei ihnen wurde das Virus nachgewiesen.

Thomas Frieden, der Leiter der New Yorker Gesundheitsbehörde, bemühte sich allerdings, übergroße Sorgen möglichst zu zerstreuen: "Es handelt sich um sehr leichte Fälle. Keines der Kinder musste ins Krankenhaus, keines ist ernsthaft erkrankt."

Gleichzeitig rief er die Bevölkerung auf, bei leichten Anzeichen von Grippe nicht gleich ins Krankenhaus zu kommen und versicherte: "Wir haben Millionen Tamiflu-Tabletten."

Mexiko behauptet ebenfalls, mit Impfstoffen gewappnet zu sein. Doch noch ernster wird es voraussichtlich an diesem Montag, wenn wieder das Gedränge in U-Bahnen, Bussen und Bahnhöfen ausbricht. Die mexikanische Polizei meldete unterdessen die Festnahme eines jener Kriminellen, nach denen in diesen Wochen sonst gefahndet wird. Die Polizisten trugen zu ihren Maschinengewehren alle einen Mundschutz.

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SZ vom 27.04.2009/af
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