Süddeutsche Zeitung

Kognition:Die Spanne der kollektiven Aufmerksamkeit schrumpft

  • Bildungsforscher haben berechnet, dass sich ein Hashtag bei Twitter 2013 durchschnittlich 17,5 Tage unter den Top 50 hielt - bis zum Jahr 2016 war diese Zeitspanne auf 11,9 Tage gesunken.
  • Die Wissenschaftler erklären diesen Effekt durch die verstärkte Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Nutzer.
  • Denn das Fassungsvermögen für die kollektive Aufmerksamkeit bleibt offenbar insgesamt gleich.

Von Werner Bartens

Der technisch-zivilisatorische Fortschritt der vergangenen 150 Jahre ist nicht denkbar ohne kulturkritische Begleitung. Demnach entwickelt sich alles immer schneller, und diese Beschleunigung der Kommunikation, des Verkehrs und der Arbeit - um Bereiche zu nennen, die besonders rasanten Veränderungen unterworfen sind - überfordert das geknechtete Individuum. Der Tag umfasst schließlich auch weiterhin nur 24 Stunden und während man das eine tut, vernachlässigt man zwangsläufig das andere.

Physiker, Mathematiker und Informatiker haben im Fachblatt Nature Communications zu quantifizieren versucht, wie sehr die rituell beklagte Informationsflut tatsächlich die Aufmerksamkeit beeinträchtigt. Das Team von der TU Berlin, dem dortigen Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der Universität Kopenhagen erfasste, wie lange sich Trends oder Nachrichten auf Twitter oder Google hielten. Weiterhin untersuchten die Forscher nicht nur Social-Media-Beiträge, sondern analysierten, wie lange Kinofilme, Bücher und andere kulturelle Erzeugnisse beliebt waren.

"Offenbar bleibt das Fassungsvermögen für die kollektive Aufmerksamkeit gleich, aber die kulturellen und nachrichtlichen Themen, die darum konkurrieren, sind immer dichter gepackt", sagt der dänische Datenexperte Sune Lehmann, der an der Studie beteiligt war. "Das unterstützt die Behauptung, wonach es immer schwieriger wird, auf dem Laufenden zu bleiben." Die Wissenschaftler hatten berechnet, dass sich ein Hashtag bei Twitter 2013 durchschnittlich 17,5 Tage unter den Top 50 hielt - bis zum Jahr 2016 war diese Zeitspanne auf 11,9 Tage gesunken.

Aber nicht nur in den prinzipiell schneller getakteten Online-Interaktionen geriet die Zeit immer kürzer, die für einzelne Themen erübrigt wurde; auch analoge Medien wie Bücher und Filme blieben über eine geringere Spanne im Fokus der Aufmerksamkeit, wie die Analyse von Bestsellern der vergangenen 100 Jahre und von erfolgreichen Kinostreifen aus den letzten 40 Jahren zeigte. Zwar wird die Aufmerksamkeit für einen Roman oder Hollywoodfilm in jüngster Zeit schneller erreicht und es kommt rasch zum Hype, allerdings flaut die Konzentration auch bald wieder ab. Diesen sprunghaften Wechsel beobachteten die Forscher übrigens weder für wissenschaftliche Publikationen noch für Wikipedia-Artikel, was womöglich daran liegt, dass es sich dabei um wissensbasierte Inhalte handelt, die nicht so stark populären Moden und damit einer beschleunigten Dynamik unterliegen.

Im Zeitalter der kollektiven Reizüberflutung wird ein Hype vom nächsten verdrängt

"Die Spanne der kollektiven Aufmerksamkeit wird immer enger", sagt Lehmann. "Es wäre spannend zu schauen, was das mit dem Individuum und seinen Fähigkeiten macht, neue Informationen zu bewerten und einzuordnen." So könne der Druck in vielen Berufen weiter steigen - etwa für Journalisten, die sich immer schneller neue Bereiche erschließen oder den raschen Wandel in ihrem Spezialgebiet nachvollziehen müssten.

Als Grund für die soziale Beschleunigung vermuten die Forscher, dass die Zunahme an Ereignissen und Informationen in Zeiten globaler Vernetzung schneller dazu führt, dass ein guter Film, ein überzeugendes Buch oder eine Nachricht bekannt werden. Die Phase der Sättigung ist jedoch bald erreicht und die größere Dichte an Informationen führt zu einer Konkurrenz um Beachtung. Im Alltag zeigt sich das längst. Der Soziologe Hartmut Rosa hat beschrieben, dass im durchschnittlichen Haushalt um 1900 etwa 400 Dinge vorhanden waren. Heute sind es etwa 10 000 Dinge, die uns umgeben und beschäftigen; und sei es nur mit der Frage, ob wir sie bald wegwerfen.

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SZ vom 16.04.2019/hach
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