Atommüll:Müllkippen für die Ewigkeit

Stilllegungsphase im Atommüllendlager Morsleben dauert an

In rund 500 Metern Tiefe lagern im Endlager für schwach und mittelradioaktiven Atommüll in Morsleben in Sachsen-Anhalt Fässer mit Atommüll.

(Foto: picture alliance / dpa)

Weltweit haben sich gigantische Mengen Atommüll aufgetürmt - doch niemand will sie haben. Anders in Schweden: Dort konkurrierten zwei Städte darum, zur Endlagerstätte zu werden.

Von Christoph Behrens

"Was den Atommüll betrifft", erklärte der Physiker Werner Heisenberg 1955, "so genügt es, ihn in einer Tiefe von drei Metern zu vergraben, um ihn vollkommen unschädlich zu machen." Wie Nobelpreisträger doch irren können.

Das ukrainische Pripjat im Jahr 2016: In der Nähe des Reaktors 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl errichten Tausende Arbeiter eine fast 300 Meter breite und mehr als 100 Meter hohe Struktur - eine neue, rund zwei Milliarden Euro teure Schutzhülle für den Unglücksreaktor, in dem es vor 30 Jahren zum bislang schwersten atomaren Unfall kam. Der Käfig ist Zeugnis, dass dieses Unglück längst nicht vorbei ist: Nur ein Bruchteil des radioaktiven Materials entwich in den Tagen nach der Kernschmelze, etwa 95 Prozent des ursprünglichen Brennstoffs befinden sich noch im Inneren des Reaktorblocks. Als heiße, verklumpte Masse strahlen die mehr etwa 200 Tonnen Atommüll weiter vor sich hin (hier mehr zur aktuellen Situation vor Ort) - der neue Sarkophag soll die strahlenden Überreste die kommenden 100 Jahre abschotten.

230 Tonnen radioaktiver Müll, ein Jahrhundert aufbewahrt - was mächtig klingt, ist in der Welt des Atommülls recht wenig. Mehr als 65 Millionen Tonnen Atommüll warten laut Schätzungen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) auf ihre Entsorgung, davon 2,7 Millionen Tonnen hochradioaktives Material, das Hunderttausende Jahre sicher verwahrt werden muss. Genaue Zahlen sind kaum zu ermitteln, die Mitgliedsstaaten der IAEO melden ihre Abfallmengen oft unregelmäßig oder überhaupt nicht an die Organisation.

Jedenfalls braucht es keine Unglücke wie jene von Tschernobyl oder Fukushima I, um viele Generationen vor ein Rätsel zu stellen, wie mit dem strahlenden Erbe umzugehen ist. Denn für diesen "High-Level-Waste" (HLW) genannten Abfall existiert auch 60 Jahre nach Beginn des Atomzeitalters und 30 Jahre nach dem Unglück von Tschernobyl auf der ganzen Welt kein einziges funktionstüchtiges Endlager.

Der mit einer Betonhülle umschlossene Unglücksreaktor von Tschernobyl

Im Inneren des Unglücksreaktors von Tschernobyl (Aufnahme von 1986) werden noch immer 230 Tonnen hochradioaktiver Atommüll vermutet.

(Foto: V.Repik/REUTERS)

Der hochradioaktive Teil macht zwar weniger als fünf Prozent des gesamten Atommülls aus, enthält aber etwa 99 Prozent der Radioaktivität. Die Strahlung geht von Elementen wie Plutonium aus, das bei der nuklearen Energiegewinnung entsteht und von dem bereits einige Mikrogramm genügen, um einen Menschen umzubringen. Eine Million Jahre müssen die hochradioaktiven Stoffe daher von der Umwelt abgeschirmt werden, bevor sie harmlos sind. "Das heißt, es dürfen keine Radionuklide - oder nur sehr wenige - in die Biosphäre gelangen", sagt John Kettler vom Institut für Nukleare Entsorgung und Techniktransfer der RWTH Aachen. Denn die radioaktiven Teilchen könnten im Erbgut von Tieren, Pflanzen oder Menschen schwere Schäden hervorrufen. Beim Zerfall erzeugen die hochradioaktiven Stoffe sehr viel Hitze, die ebenfalls abgeleitet werden muss.

Gorleben: "Jahrzehnte gebraucht, nur um die Entscheidung zu rechtfertigen"

Als Aufbewahrungsort kommen daher nur Orte infrage, die tief unter der Erde liegen, umgeben von Hunderte Meter dickem Fels. "Das wird als einzig sicherer Weg gesehen, diese langlebigen Abfälle zu entsorgen", sagt der Physiker Charles McCombie. Tief im Untergrund sei der Müll geschützt vor "disruptiven Ereignissen" wie Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen. Da sind sich die Fachleute einig. Nur beim Finden dieser Orte wird es schwierig. McCombie sucht seit etwa 35 Jahren im Auftrag von Regierungen nach potenziellen Standorten für Atommüll-Endlager - einen Erfolg, also eine tatsächliche Entscheidung für einen Standort, konnte der gebürtige Schotte noch nicht verbuchen.

Der Physiker fasst die Situation so zusammen: Zunächst seien viele Staaten nach dem Prinzip DAD vorgegangen - "Decide, Announce, Defend". Politiker legen im stillen Kämmerchen einen Ort fest, der den Atommüll bekommen soll, sie verkünden die Entscheidung, verteidigen sie. So lief es im Salzstock Gorleben, den die deutsche Politik 1979 zum Standort eines Endlagers bestimmte. Die Folge: jahrzehntelange Proteste von Anwohnern, Rechtsstreitigkeiten durch alle Instanzen, Blockaden von Atomkraftgegnern. "Gorleben tauchte aus dem Nichts auf, und man brauchte Jahrzehnte, nur um die Entscheidung zu rechtfertigen", sagt McCombie.

Atommüll: Zwischenlager für Atommüll in Deutschland - SZ-Grafik: Hanna Eiden; Quelle: Bundesamt für Strahlenschutz (Stand: Ende 2014)

Zwischenlager für Atommüll in Deutschland - SZ-Grafik: Hanna Eiden; Quelle: Bundesamt für Strahlenschutz (Stand: Ende 2014)

Seit 2013 ist die Suche nach einem Endlager in Deutschland wieder offen, die dafür eingesetzte Endlager-Kommission des Bundestags beginnt bei der "weißen Landkarte", also bei null. Ähnlich lief es in vielen anderen Ländern, etwa den USA und der Schweiz. Die Atom-Lobby habe eine "historische Inkompetenz" im Umgang mit der Zivilgesellschaft, glaubt McCombie. "Das ist eine Branche, die ursprünglich mit der allerhöchsten Geheimhaltung gearbeitet hat, geleitet von Vollblut-Wissenschaftlern", sagt der Physiker. "Die haben nicht viel Zeit dafür aufgewendet, sich mit der Gesellschaft zu beschäftigen." Dabei seien die größten Herausforderungen bei der Endlager-Suche nicht technischer, sondern gesellschaftlicher Natur. Angesichts des Scheiterns erweiterten Fachleute das DAD-Prinzip - nicht ganz ernst gemeint - zu DADA - der letzte Buchstabe steht für "Abandon", aufgeben.

Endlager in Deutschland: Möglicherweise erst 2114

Neuerdings wollen Staaten den Atommüll daher im Konsens mit ihren Bürgern entsorgen. Oder Gemeinden sollen sich gleich freiwillig melden und am besten sogar noch um den Atommüll konkurrieren - so geschehen in Schweden. Dort wollten gleich zwei Gemeinden zum Standort für ein Endlager werden, gelockt von der Aussicht auf hochwertige Arbeitsplätze, Millionenzahlungen von den Energiefirmen, Steuergeschenke auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. 2009 fiel die Entscheidung für Östhammar, eine Kleinstadt zwei Autostunden nördlich von Stockholm.

Die zweitplatzierte Kommune erhielt eine Entschädigung von etwa 160 Millionen Euro - dafür dass sie keinen Atommüll bekommt. "Ein Konkurrenzkampf um eine verantwortungsvolle Aufgabe" sei das gewesen, sagt Entsorgungsexperte John Kettler bewundernd. Auch im finnischen Eurajoki findet sich seit Jahren eine Mehrheit für das Endlager, das gerade in 500 Meter Tiefe in den Fels von Olkiluoto gesprengt wird. Als weltweit erste Anlage könnte sie 2022 den Betrieb aufnehmen, gefolgt einige Jahre später von der Einrichtung in Schweden.

Häufig werden die Skandinavier von Atomkraft-Befürwortern als Beleg dafür genannt, wie einfach die Entsorgung sei. Dabei äußern selbst in Finnland Wissenschaftler Zweifel, wie beständig der Untergrund von Olkiluoto ist, ob die Wände etwa eine Eiszeit überstehen würden. Und abgesehen von Skandinavien schieben die meisten Länder das Problem ohnehin lieber in weite Ferne.

Die USA, wo mit 100 Atomreaktoren so viel Atommüll wie nirgends sonst anfällt, wollten den hochradioaktiven Müll ursprünglich im Yucca Mountain im Bundesstaat Nevada deponieren. Seit 1987 arbeiteten Politiker auf Bundesebene darauf hin, obwohl die Stätte von amerikanischen Ureinwohnern als heilig verehrt wird und es ganz in der Nähe Hinweise auf vulkanische Aktivität gibt. Seit 2008 versucht Präsident Obama nun, das Vorhaben zu stoppen - zuletzt ließ das Weiße Haus eine 700 000 Hektar große Fläche zum Nationalmonument erklären, durch die der Atommüll mit dem Zug zum Yucca Mountain gebracht werden sollte. Nun versperrt vorläufig ein besonders geschützter Nationalpark den Weg.

Eine Alternative ist nicht in Sicht - bislang lagert der hochradioaktive Atommüll direkt auf dem Gelände der Kernkraftwerke. Weil die US-Regierung laut einem Gesetz verpflichtet wäre, den Müll zu übernehmen, selbst aber keine Lösung anbieten kann, machen die Kraftwerksbetreiber hohe Schadenersatzansprüche geltend. Von 2020 an werde die Lagerung den Steuerzahler 500 Millionen US-Dollar jährlich kosten, droht die Atomlobby. Die verbrauchten Brennstäbe aus der zivilen Atomkraft sind nicht die einzige atomare Last der USA - hinzu kommen mehr als 300 000 Kubikmeter hochradioaktive Abfälle aus der Atombombenherstellung, für die es ebenfalls noch keine langfristige Lösung gibt.

In Deutschland soll 2031 laut Umweltministerin Barbara Hendricks zumindest der Ort für ein Endlager feststehen, 2050 sollen die unterirdischen Stollen fertig sein. Die Planungen hält der Physiker Bruno Thomauske, Mitglied der Endlager-Kommission des Bundestags, für kaum plausibel. Beispielsweise sei nur ein einziges Jahr für Gerichtstermine einkalkuliert worden, und nur wenige Jahre für die Erkundung eines potenziellen Standorts, Probebohrungen und Sicherheitstest. "Bis 2031 alles abgewogen zu haben, ist einfach Unsinn", sagt Thomauske. Dabei sei man der Öffentlichkeit angesichts der Erfahrungen mit Gorleben Ehrlichkeit schuldig. "Wir dürfen diesen Prozess nicht mit einer Anfangslüge starten", sagt Thomauske. Dies sei aber ein anhaltender Konflikt innerhalb der Kommission. Der Physiker hat eigene Berechnungen aufgestellt und rechnet eher mit einer Inbetriebnahme zwischen 2083 und 2114. Das zweite Datum erscheine ihm "deutlich realitätsnäher".

Nur ein einziger Ort ist laut einer Datenbank der IAEA in Wien als Endlager für hochradioaktiven Müll gekennzeichnet. Nach dem Unglück von Tschernobyl haben sowjetische Einsatzkräfte in der Nähe Gräben ausgehoben und darin 3900 Tonnen hochradioaktiven Atommüll vergraben. Die Ukrainer haben die Lagerstätte bei der IAEA als "Disposal site" angemeldet, als Endlager, einige Meter tief unter der Erdoberfläche. Die Atomenergiebehörde weist jedoch vehement darauf hin, dass die Lagerung nicht sicher sei und irgendwann rückgängig gemacht werden müsse.

Ausgerechnet am Ort des größten atomaren Unfalls wurde Heisenbergs naiver Endlager-Plan umgesetzt.

TV-Tipp: Am 26. April 2016 um 21:45 Uhr zeigt Arte einen Dokumentarfilm zu der ungelösten Atommüll-Frage. Den Film "Die Reise zum sichersten Ort der Erde" gibt's zudem hier in der Mediathek.

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