"Und jetzt nehme ich Sie einmal mit in die Tiefe", sagt Julia Rienäcker-Burschil. "Wie sieht so eine Salzstruktur aus?" In ihrem Rücken erscheint eine 3-D-Darstellung, ein Salzstock im niedersächsischen Wahn, mit Querschnitten auf verschiedenen Ebenen. Willkommen in der Welt des Atommülls.
Eine Bühne in Kassel, Mitte Oktober. Bei einer Online-Fachkonferenz dürfen sich Bürger mit der deutschen Geologie beschäftigen. Zwei Tage lang erklärt die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), wie sie jene Gebiete identifiziert hat, die prinzipiell für die Endlagerung des nuklearen Abfalls in Frage kommen. Wie sie "geowissenschaftliche Abwägungskriterien" anwandte und so Regionen aussiebte. Und warum am Ende trotzdem 54 Prozent der Bundesfläche übrig blieben. Rienäcker-Burschil ist eine der Geowissenschaftlerinnen, die beteiligt waren.
Einige Hundert Bürger sind bei dieser ersten Konferenz virtuell dabei, es wird ein Crashkurs in Geologie. Wer Ausdauer hat, erfährt viel über Erdgeschichte, über den Mitteljura etwa und wie er im Süden der Republik den Opalinuston hinterließ, eines der drei potenziellen Wirtsgesteine. Das Publikum lernt metamorphe Gesteine und Plutonite kennen und schließlich das Wirtsgestein Granit, wie es in Bayern und Sachsen vorkommt. Und natürlich Salz mit seinen Vorteilen, aber auch seiner Wasserlöslichkeit. "Kennt man vom Kochen", sagt Rienäcker-Burschil. "Speisesalz löst sich im Wasser auf."
Wissen über den tiefen Untergrund - es soll helfen, das schier Unmögliche zu schaffen: Ein Endlager zu finden, das nicht am Widerstand der Bevölkerung scheitert. Alles soll diesmal besser laufen als einst beim Salzstock Gorleben, der - hemdsärmelig bestimmt - am Ende als politisch verbrannt galt. "Es gibt kaum einen so stigmatisierten Bereich wie nukleare Abfälle", sagt der Soziologe Ortwin Renn, einer der Chefs des Potsdamer Instituts für Nachhaltigkeitsforschung IASS. "Da werden noch so viele Sirenengesänge bei betroffenen Gemeinden nicht verfangen."
Können es also Argumente richten? Dieses Feldexperiment ist vor Kurzem angelaufen. Die erste grobe Karte der BGE mit riesigen Granit- und Tonvorkommen und vielen kleinen Salzstöcken ist nur ein erster Schritt. Peu à peu soll der Suchraum eingeengt werden: Flächen werden herausfallen, weil Siedlungen darüber liegen, Naturschutzgebiete, Kulturdenkmäler. Andernorts werden eingehendere Erkundungen Tücken offenbaren. Am Ende bleibt eine Handvoll Orte, die für eine bergmännische, untertägige Erkundung infrage kommen. Einer davon soll Endlager werden, nach strikt geowissenschaftlichen Kriterien. Doch es geht nicht nur um Geologie.
"Wir haben das Glück, relativ viele günstige Gesteinsformationen unter unseren Füßen zu haben", sagt der Physiker und Philosoph Armin Grunwald. Umso wichtiger würden damit aber die sozialwissenschaftlichen Fragen. "Denn wenn es viele Möglichkeiten gibt, stellt sich die Frage: Wer kriegt es?" Grunwald ist einer von zwei Vorsitzenden des "Nationalen Begleitgremiums", einer in dieser Form einmaligen Institution.
"Kritik muss als Ressource gesehen werden, nicht als lästig."
Das Gremium soll die Suche beäugen - nicht nur aus der Expertensicht, sondern mit zufällig ausgewählten Bürgern und Vertretern der jungen Generation. "Es kommt alles auf das Verfahren an", sagt Grunwald. "Es darf nicht der geringste Eindruck entstehen, dass da Willkür herrscht, Dinge in Schubladen verschwinden." Deswegen auch die virtuellen Geologie-Ausflüge, Fachkonferenzen, eine ständige Beteiligung der Öffentlichkeit. "Kritik muss als Ressource gesehen werden, nicht als lästig", sagt Grunwald, der auch das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag leitet.
Ein "lernendes System" soll die Suche werden, verlangt auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, das die Aufsicht über das Verfahren führt. "In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass man auch zu einem früheren Punkt zurückkehren muss, wenn man sich in einer Sackgasse wiederfindet oder wenn es neue wissenschaftliche Erkenntnisse gibt", sagt Grunwald. "Dann muss der Plan geändert werden."
Doch der Druck ist enorm. 1900 Castorbehälter mit hochaktivem Müll wird das Endlager aufnehmen müssen. Hunderte davon stehen schon jetzt in Zwischenlagern, auch an einstigen AKW-Standorten. Die Betriebsgenehmigungen dieser Lager laufen von 2034 an peu à peu aus. Der Widerstand gegen Verlängerungen ist groß.
Die Suche nach einem Endlager, sagt Soziologe Renn, sei durch den Ausstieg aus der Atomkraft leichter geworden. Zumindest dieser Kampf belaste nicht mehr das Verfahren. Im Idealfall stehe am Ende ein "tolerierter Konsens". Rund um die Ansiedlung von Müllverbrennungsanlagen hat Renn jahrelang an solchen Verfahren gearbeitet - etwa indem er zufällig ausgewählte Bürger aus potenziellen Standortgemeinden über den besten Ort verhandeln ließ. "Wenn man solche Verfahren klug strukturiert, kann das funktionieren." Dazu aber müssten alle Schritte nachvollziehbar, plausibel und transparent sein, sagt Renn.
Leben allerdings müssen am Ende Generationen mit dem Endlager, die an der Auswahl gar nicht beteiligt waren. Mit dem Verfahren allein sei es deshalb nicht getan, sagt auch der Technik-Ethiker Grunwald. "Der Umgang mit dem Atommüll bleibt eine nationale Aufgabe, auch wenn eine Region die Last übernimmt." Es brauche also auch eine Gegenleistung - und Anerkennung. "Und sei es", sagt Grunwald, "dass der Bundespräsident einmal im Jahr vorbeischaut."