Süddeutsche Zeitung

Kernenergie:Atomarer Klimaschutz

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Frankreich verlängert die Laufzeit alter Kernkraftwerke, Bill Gates lässt neue entwickeln. Den Kampf gegen die Erderwärmung entscheidet das nicht.

Kommentar von Christoph von Eichhorn

Es klingt so verführerisch einfach: Warum mühselig immer neue Windräder bauen und Photovoltaik-Module auf die Dächer schrauben, um den Klimawandel zu bremsen, wenn es schon Technik gibt, um CO₂-arm Energie zu produzieren? Atomkraftwerke etwa. Viele sind schon gebaut, Kohle, Öl oder andere fossile Energieträger brauchen sie nicht. So etwa lautet die Überlegung der französischen Regierung, die mit Verweis auf den Klimaschutz kürzlich die Laufzeiten der 32 ältesten Kernreaktoren des Landes um zehn Jahre angehoben hat, auf nunmehr 50 Jahre.

Aus ökonomischen Gründen ist es schlauer, auf Erneuerbare Energien zu setzen

Doch so verlockend diese Strategie auch zunächst erscheint, in der Umsetzung bringt sie etliche Schwierigkeiten mit sich. Die französischen Kernreaktoren sind sicherheitstechnisch häufig auf dem Niveau der 1960er- oder 70er-Jahre, sie an den heutigen Stand anzupassen - wie von der Atomaufsicht zur Bedingung für die längere Laufzeit gemacht -, ist teuer und aufwendig, einige Experten sagen sogar: unmöglich. Dem gegenüber steht ein eher geringer Nutzen für den Klimaschutz, begrenzt auf einige Jahre. Da ist es schon aus ökonomischen Gründen häufig schlauer, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu forcieren - denn Entstehungskosten für Wind- und Solarenergie fallen seit Jahren rasant, ohne dass damit die gleichen Risiken wie mit der Kernenergie verbunden wären. Auch die Kosten für Energiespeicher sinken, was einen höheren Anteil der Erneuerbaren im Energiesystem ermöglicht.

Aber in der Diskussion sind ja nicht nur Laufzeitverlängerungen alter AKW. US-Präsident Joe Biden plant mit dem Impetus Klimaschutz Investitionen in kleinere modulare Reaktoren, Microsoft-Gründer Bill Gates lässt an ganz neuen Typen forschen. Hier ist vor allem die lange Vorlaufzeit ein Problem. Bis ein neues Atomkraftwerk - mit bekannten Reaktortypen - geplant und gebaut ist, vergehen locker zehn Jahre. Bei neuen Konzepten wie dem Thorium-Flüssigsalzreaktor beträgt der Zeithorizont eher 20 bis 30 Jahre, bis erst einmal ein Prototyp steht, von der Marktreife ganz zu schweigen. Das ist zu langsam, um einen Beitrag zur CO₂-Reduktion zu leisten, schätzte kürzlich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags.

Um die Erderwärmung bis Ende des Jahrhunderts auf unter zwei Grad zu begrenzen, müssen die Emissionen jetzt sofort sinken, Jahr für Jahr, nicht erst in einigen Jahrzehnten. Hierin liegt die eigentliche Tragik in der Diskussion um Kernkraft. Die Welt ist viel zu spät dran damit, die Emissionen zu senken. Lässt man pandemiebedingte Effekte beiseite, ist eine Trendumkehr beim globalen Kohlendioxid-Ausstoß noch immer nicht in Sicht. So wird die Kernkraft - trotz aller Probleme wie Sicherheitsrisiken, ungelöster Endlagersuche, Proliferation von waffenfähigem Material - zum letzten Strohhalm, um noch irgendwie die Kurve zu kriegen, und man ist gezwungen, über eine Technologie nachzudenken, die man schon fast für überwunden hielt.

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