Atomkatastrophe in Japan:Späte Erkenntnis, spätes Geständnis

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Japan ruft die höchste Gefahrenstufe 7 für die Atomkatastrophe in Fukushima aus. Endlich scheint die Regierung das wahre Ausmaß der Katastrophe zu realisieren - und zuzugeben. Warum sich die Behörden ausgerechnet jetzt zu einer Neubewertung des Unglücks entschließen.

Markus C. Schulte von Drach

In den vergangenen Wochen hatte man immer wieder das Gefühl, japanische Behörden und die Betreiberfirma des Atomkraftwerks Fukushima-1 würden die Gefahr möglicherweise verharmlosen, die von der havarierten Anlage ausgeht. Jetzt kommt offenbar die Bestätigung.

Vertreter von Japans Atomsicherheitskommission (NSC) und der Atomsicherheitsbehörde (Nisa) verkünden am 12. April, dass für Fukushima-1 nun Gefahrenstufe 7 gilt. (Foto: dpa)

In Japan scheint man endlich das wahre Ausmaß der Katastrophe zu realisieren - und zuzugeben. Anders lässt es sich kaum verstehen, dass die Regierung so lange darauf beharrte, die Situation in Fukushima-1 mit der Gefahrenstufe 5 der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Vor- und Unfälle, Ines, zu bewerten - um sie nun gleich auf die höchste Stufe 7 anzuheben.

Der Grund für die Maßnahme sind Messungen, die bereits einige Zeit zurückliegen. Die japanische Atomsicherheitsbehörde Nisa sowie die Atomsicherheitskommission NSC haben festgestellt, dass im März Radioaktivität freigesetzt wurde, die die Einstufung auf der höchsten Ines-Gefahrenstufe rechtfertigt: 370.000 bis 630.000 Terabecquerel von Jod-131 und Cäsium-137 wurden insbesondere am 15. und 16. März freigesetzt, nachdem es im Reaktorblock 2 zu einer Explosion gekommen war. (Ein Terabecquerel entspricht 10 hoch 12 Becquerel. Becquerel ist die Einheit für Radioaktivität eines Stoffes und gibt die mittlere Anzahl der Atomkerne an, die in einer Sekunde radioaktiv zerfallen.)

Diese Radioaktivität entspreche etwa zehn Prozent derjenigen, die 1986 nach der Explosion im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl in die Umgebung gelangt ist, heißt es. In der Ukraine waren 5,2 Millionen Terabecquerel Radioaktivität freigesetzt worden.

Ausschlaggebend für eine Bewertung der Gefahr als Stufe 7 ist laut Internationaler Energieorganisation IAEO die Freisetzung einer "bedeutenden Menge radioaktiven Materials mit umfassenden Folgen für die Gesundheit und die Umwelt, die weitgehende Katastrophenschutzmaßnahmen notwendig machen". Die hier vorausgesetzte Radioaktivität soll äquivalent sein zu "etlichen zehntausend Terabecquerel von Jod-131". Und diese Zahl wurde in Fukushima-1 auf jeden Fall deutlich überschritten.

Bei einer solchen Freisetzung ist für größere Gebiete - vielleicht sogar über Landesgrenzen hinweg - mit einem erhöhten Risiko für gesundheitliche Folgen in der Bevölkerung zu rechnen, heißt es bei der IAEO. Dazu seien "langfristige Konsequenzen für die Umwelt wahrscheinlich. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass Schutzmaßnahmen wie der Aufenthalt in Gebäuden und Evakuierungen als notwendig betrachtet werden".

Die bislang geltende Stufe 5 betrifft dagegen eine freigesetzte radioaktive Aktivität in einer Größenordnung, die "Hunderten bis Tausenden Terabecquerel von Jod-131" entspricht.

Wie in der Vergangenheit wurden die Daten nur zögerlich veröffentlicht. Erst hatte der Vorsitzende der japanischen Atomsicherheitskommission (NSC), Haruki Madarame, erklärt, man schätze, dass über mehrere Stunden Material mit einer Aktivität von 10.000 Terabecquerel pro Stunde freigesetzt worden sei.

Nun erst wurden die dramatischen Zahlen veröffentlicht, die zu der Anhebung der Gefahrenstufe auf Level 7 führten.

Inzwischen soll die Freisetzung auf weniger als ein Terabecquerel pro Stunde zurückgegangen sein. Trotzdem habe man die Einstufung der Schwere des Unglücks auf 7 angehoben, "weil die Auswirkungen der Strahlung umfassend sind, in der Luft, im Gemüse, in Leitungs- und Meerwasser", wie Minoru Oogado von der Atomsicherheitsbehörde (Nisa) erklärte.

Zuvor hatten die französische Atomsicherheitsbehörde ASN und das Institute for Science and International Security Fukushima-1 bereits immerhin auf 6 eingestuft, einer Einschätzung, der Japan bislang nicht hatte folgen wollen. Dabei hatten bereits Ende März Experten des österreichischen Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) berechnet, dass die Radioaktivität in einer Größenordnung von mehreren Hunderttausend Terabecquerel liegen könnte. Die Forscher nutzen Messdaten der Organisation CTBTO, die die Einhaltung des Atomwaffenteststopp-Vertrags überwacht. Allerdings müssen diese Daten, die in großer Entfernung von Fukushima-1 gemessen werden, hochgerechnet werden. Die Angaben der Österreicher galten demnach als relativ unsicher. Sie dürften sich nun bestätigt fühlen.

In einem überraschend ehrlichen Statement erklärte ein Sprecher des Anlagenbetreibers Tepco inzwischen, letztlich könnte sogar mehr Radioaktivität in die Umwelt gelangen als in Tschernobyl. Es besteht allerdings Hoffnung, dass es nicht soweit kommt. Schließlich, so fügte ein Sprecher der japanischen Atomaufsichtsbehörde Nisa, hinzu, habe es anders als in Tschernobyl bislang keine Explosionen im Reaktorkern von Fukushima-1 gegeben.

Auch die Gefahr, die für die Bevölkerung ausgeht, wird in Japan nun offenbar neu bewertet. So hat die Atomsicherheitskommission erklärt, dass auch in Gebieten, die im Nordwesten mehr als 60 Kilometer und im Südwesten bis zu 40 Kilometer von Fukushima-1 entfernt liegen, die erlaubte Höchstdosis von 1 Millisievert, der ein Mensch über den Zeitraum von einem Jahr ausgesetzt sein darf, inzwischen überschritten sei. Betroffen sind offenbar die Orte Katsurao, Namie, Iitate sowie Teile von Kawamata und Minamisoma. Die Evakuierungszone rund um das Kraftwerk wurde deshalb auf diese Gemeinden ausgedehnt.

Innerhalb der 20-Kilometer-Zone wurden Werte von weniger als einem Millisievert bis hin zu mehr als 100 Millisievert gemessen, in der Zone zwischen 20 und 30 Kilometer um das havarierte Kraftwerk wurden Werte von weniger als 50 Millisievert festgestellt. Diese Werte gelten nicht pro Stunde, sondern stellen die Belastung für den Zeitraum seit der Freisetzung dar. Doch Menschen, die bislang dort über längere Zeit der Strahlung ausgesetzt waren, könnten die Höchstdosis von einem Millisievert pro Jahr bereits erheblich überschritten haben.

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