Süddeutsche Zeitung

Atomkatastrophe in Japan:Horten, warten, bangen

Langsam setzt sich in Japan die Gewissheit durch, dass das Land auf lange Zeit mit den Folgen des Atomunfalls leben muss: Die Region um das Kernkraftwerk ist verstrahlt, Gemüse und Milch dürfen nicht mehr verkauft werden. Und die Reaktoren strahlen weiter.

Christoph Neidhart

Kein einziges Mal sei der Strom abgestellt worden, erzählt Hideaki Uchitomi, der am Stadtrand der Metropole Tokio wohnt. Und er ist fast ein wenig stolz darauf. Da gibt es das schwerste Erdbeben in der Geschichte Japans, Teile des Landes sind verwüstet, eine Atomanlage steht vor dem GAU, Radioaktivität breitet sich aus - und in Tokio herrscht fast so etwas wie Normalität. "Sie haben zwar täglich von möglichen Blackouts gesprochen, aber erlebt haben wir das nie", sagt der 52-jährige Familienvater, denn: "So sind wir Japaner. Wenn man uns sagt, wir sollen für die Gemeinschaft 30 Prozent Strom sparen, dann sparen wir 30 Prozent Strom. Da protestiert keiner."

Um weniger Energie zu verbrauchen, lebt Tokio in der zweiten Woche nach der Havarie von Fukushima im Spargang. Die langen unterirdischen Gänge der Bahnhöfe sind düster, nur jede zweite Lampe brennt; die Leuchtreklamen und Vitrinen sind dunkel, die meisten Rolltreppen abgeschaltet. An manchen Bahnhöfen wird zu Blutspenden aufgerufen. Die Yamanote-Ringlinie der S-Bahn verkehrt mit reduziertem Fahrplan. Dennoch sind die Züge nach der ersten Welle des Berufsverkehrs schwach besetzt. Man findet, ungewöhnlich genug in Tokio, sogar einen Sitzplatz. Einige Fahrer schalten das Innenlicht aus, um noch etwas mehr Energie zu sparen.

Die meisten Menschen sind still, sie lesen oder dösen. Nur in Ebisu steigen dann fröhliche junge Mädchen in bunten Kimonos ein, sie tragen aufwendige, festliche Frisuren. Viele Mittelschulen halten an diesem Tag ihre Abschlussfeiern ab, für japanische Schüler ist das ein großer Feiertag.

Sie wollen Spaß haben - selbst wenn die Meldungen über verseuchtes Essen und verstrahltes Wasser immer häufiger werden.

Nur wenn die Angst vor der Radioaktivität in Tokio mehr als einen Monat anhalte, dann werden sich wirklich etwas ändern in Japan, glaubt Hideaki Uchitomi. "Sonst vergessen die Leute alles zu schnell." Es müsse doch möglich sein, findet er, auf erneuerbare Energien umzusteigen. "In einem Land mit so vielen Vulkan, mit heißen Quellen, da muss man doch mit dieser Wärme auch heizen können." Denn mit dem Atomstrom, damit sei es vorbei in Japan. Er selbst hatte seine Frau und die Kinder vorige Woche in aller Eile zum Flughafen gebracht, die drei sind jetzt in Hongkong. "Ich war nervös." Die Nervosität wuchs, als Tepco, die Betreibergesellschaft der zerstörten Reaktoren, bekanntgab, man ziehe sich von der strahlenden Ruine zurück. "Die haben das Atomkraftwerk einfach sich selbst überlassen." Utichomi kann es immer noch nicht glauben.

Dann bricht wieder sein Stolz auf die eigenen Leute durch: "Es war nicht die Armee, die es geschafft hat, den Reaktor zu kühlen. Und nicht Tepco. Das waren unsere Tokioter Feuerwehrmänner. Das sind unsere Helden." Ungehalten wird Uchitomi, als er hört, in Europa erzähle man sich, die Tokioter seien depressiv. "So sind wir Japaner nicht. Wir sind Rückschläge gewöhnt, wir beißen uns durch." Wie Uchitomi finden sich viele Tokioter in einer quälenden Ambivalenz zwischen Angst und Durchhaltewillen wieder.

Die Fahrt mit der S-Bahn führt nach Tsukiji, zum Fischgroßmarkt. Anders als das übrige Tokio sind die Bewohner von Tsukiji Frühaufsteher - auch in diesen schwierigen Zeiten. Wie immer haben sie ihre täglichen Auktionen schon um sechs Uhr morgens beendet. Aber an normalen Tagen herrscht hier trotzdem bis zum frühen Nachmittag Betrieb. Zumindest die Zwischenhändler offerieren gewöhnlich auch mittags noch frischen Fisch und in einer zweiten Halle Gemüse. An diesem Mittwoch jedoch wird am späten Vormittag bereits gepackt, gefegt und verladen. Das Geschäft ist mau.

Beim Gemüsegroßisten Marumi wuchtet ein Mann Kisten mit Spinat auf ein Elektromobil. Macht Marumi immer so früh zu? So ruhig ist es doch sonst nicht um diese Uhrzeit? Der Mann zögert. Viel Spinat ist übrig - obwohl doch nur der Verkauf von Spinat aus Ibaraki verboten sei, sagt der Arbeiter. In diesem Moment kommt der Chef dazu und kreuzt die Zeigefinger. Das ist das Zeichen, dass sein Angestellter keine weiteren Auskünfte geben darf. Die Marktverwaltung war weniger verschwiegen gewesen; sie hatte am Vortag bekanntgegeben, zur Zeit werde die Hälfte der sonst üblichen Menge Spinat verkauft.

Dabei hatte die Regierung den Tokiotern versprochen, es kämen keine kontaminierten Lebensmittel in den Handel. Sie könnten deshalb alles kaufen, was in den Läden liege. Aber die Zahl der gesundheitsgefährdend verseuchten Gemüsearten nimmt zu, und damit sinkt die Gewissheit, dass alles unter Kontrolle ist: Brokkoli, Blumenkohl, Petersilie, Kohl, auch Milch aus der Region um Fukushima werden nicht mehr gehandelt; die Regierung hat ihre Ausfuhr untersagt. In Taiwan waren belastete Bohnen aufgetaucht, in Hongkong ebenso. Im Ausland schaut man auch deshalb mit wachsender Sorge nach Japan: USA und EU haben mittlerweile systematische Lebensmittelkontrollen angeordnet. Die Strahlenbelastung vieler Produkte ist zwar gering, aber vom Konsum wird - auch in Japan selbst - dennoch dringend abgeraten.

Was schleichend einsetzte - die Erkenntnis, dass sich die Folgen der Reaktorkatastrophe langfristig auswirken werden - wird nun mit Paukenschlägen zur Gewissheit: Am Mittwochnachmittag warnte Tokios Stadtregierung plötzlich, Kleinkinder sollten kein Trinkwasser mehr zu sich nehmen, die Belastung mit Jod sei für sie zu hoch. Kabinettsekretär Yukio Edano versprach, die Regierung Kan suche nach Wegen, wie man Familien mit Kleinkindern mit sauberem Wasser versorgen könne. Dann bat er die Hauptstädter, kein Flaschenwasser zu horten. Aber wem wäre die Sicherheit des eigenen Kindes nicht wichtiger als die Volksgesundheit? Gehortet wird also trotz Kans Aufforderung; Taschen um Taschen mit Wasserflaschen werden abgeschleppt.

In einem kleinen Supermarkt in Setagaya unweit des Hauses der Familie von Hideaki Uchitomi, sind fast alle Regale voll, leer ist nur die Tiefkühltruhe. Wäre das Deckenlicht nicht heruntergedimmt und wären die Lampen in den Regalen nicht sogar ausgeschaltet - man könnte meinen, alles sei wie vor dem Erdbeben am 11. März. Bei "Life" hingegen, einem großen Supermarkt in der Nähe, sieht es anders aus. Die Abteilung für Fertiggerichte ist leer, es liegen nur noch einige Säcke Reis da. Am leeren Regal für Instant-Nudeln hängt ein Zettel, "nur eine Portion pro Person", beim Joghurt in Viererpackungen steht zu lesen: "Eine Packung pro Haushalt". Schon vergangene Woche hatten viele Läden begonnen, die knapp gewordenen Waren von sich aus zu rationieren.

Aber da war vieles schon weggerafft, fortgetragen - vor allem dort, wo man mit dem Auto hinkommt. "Mir geht es ja gut", seufzt Shinobu, die Mutter einer 20-jährigen Tochter, die gerade einkauft. "Ich weiß nur nicht, was ich glauben soll. Sie sagen jeden Tag etwas anderes." Und die ausländischen Medien sagten wiederum etwas anderes als die japanischen. Sie sei sehr froh, dass ihre Tochter schon erwachsen sei und zur Zeit im Ausland studiere.

Hamsterkäufe in den Läden, Alltag auf den Straßen. Auf dem Sportplatz der Landwirtschafts-Universität trainieren Baseballspieler. Am Mittwoch hat in Koshien bei Osaka das große Frühjahrs-Baseball-Turnier der Mittelschulen begonnen, das fast alle japanischen Männer am Fernsehen verfolgen. Sogar eine Mannschaft aus einer vom Erdbeben zerstörten Schule in Sendai nimmt teil. "Jetzt erst recht, so sind wir", sagt Familienvater Uchitomi wieder, erfüllt von erkennbarem Nationalstolz. "Baseball ist unser Nationalsport, Baseball macht den Menschen Mut." Er findet auch die Entscheidung der Profiliga richtig, die ihren Saisonbeginn verschoben hat, um ebenfalls Strom zu sparen, die aber ab April wieder spielen wird. Allerdings gibt es eine neue Regel beim Baseball: Die Spiele dürfen nicht länger als dreieinhalb Stunden dauern.

Im Stadtteil Minato, wo zahlreiche ausländische Botschaften angesiedelt sind, sind die Diplomaten ausgeflogen. Am Eingang der deutschen Botschaft döst der Pförtner, daneben hängt ein Anschlag, die Dienste der Vertretung seien nach Osaka verlegt worden. Die norwegische Botschaft verkündet, sie seit vorläufig im norwegischen Konsulat in Kobe. Die Schweizer Botschaft gibt in vier Sprachen ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse in Osaka bekannt. Vor ihrer Tür liegt ein Paket für die Botschaft, das ein Bote hat stehen lassen.

Wie die Vertretungen haben auch viele Ausländer Tokio verlassen, die meisten auf Anraten der Botschaften. Auch hier herrscht jedoch überall dort, wo man Essen auf Vorrat kaufen kann, emsiges Treiben. Sicher ist sicher. Der Spinat kommt hier aus Miyazaki, mehr als tausend Kilometer von Fukushima entfernt.

Inzwischen hat jemand ein Schimpfwort für jene Ausländer gefunden, die wegen der Krise abgehauen sind: "Flyjin" - nach dem abschätzigen Begriff für Ausländer, "Gaijin", Ausländer. Uchitomi findet es ziemlich normal, dass viele Ausländer angesichts der prekären Lage das Weite gesucht haben. "Gaijin ist Gaijin." Als ob man von einem Ausländer nichts anderes erwarten könnte.

Uchitomi selbst will bleiben, er will helfen. Der ehemalige Banker leitet seit einiger Zeit eine Start-up-Firma, die wärmedämmende Farben produziert. "Wir versuchen jetzt, Container-Häuser zu organisieren. Die könnte man mit unserer Farbe spritzen und ins Tsunami-Gebiet liefern", meint er. "Die Leute dort, die ihre Häuser verloren haben, frieren, sie haben keine Heizung und nicht genug zu essen. Manche haben den Tsunami überlebt, jetzt sterben sie an der Kälte." Sinnvolles tun, helfen, durchhalten, aushalten - das ist seine Devise. In der Erdbebenzone habe es auch am Mittwoch wieder geschneit, sagt er mitleidig. Außerdem sei es eine fürchterliche Anstrengung, in Notunterkünften mit Hunderten von Menschen Leuten zusammenzuleben. "Die werden krank. Aber in Tokio reden alle nur über Radioaktivität."

Zurück in der S-Bahn, bleibt der Blick an der Anzeige im Waggon hängen. 14 Vororts- und S-Bahn-Linien haben an diesem Nachmittag ihren Betrieb wegen eines Blackouts unterbrochen. Also doch: Während der Energiekonzern Tepco die zentralen und die wohlhabenden Viertel von Tokio nach Möglichkeit verschont, bürdet die Firma den Vororten tägliche Stromunterbrechungen auf. Die Fahrt geht weiter nach Akihabara, in die sogenannte "Electronic Town". Einst ein Viertel mit winzigen Läden für Technik-Studenten und Bastler, ist Akihabara heute das Zentrum der Elektronik-Kaufhäuser. Die Gegend braucht, mehr als jede andere in der Stadt, den Strom von Tepco. Ohne Strom ist alles unbrauchbar, was man hier verkauft kann. Auf den ersten Blick wirkt auch Akihabara wie immer, Trauben von Kunden drängen sich durch die Gassen, bleiben an den neuesten Gadgets hängen.

Aber dann ziehen schwarze Wolken auf, es dämmert früh an diesem Abend. Und alles wirkt plötzlich bedrohlich. Die Leuchtreklamen bleiben ausgeschaltet, zudem ist es stiller als sonst. Die Lautsprecher, die sonst Musik und Werbesprüche ausspucken, bleiben stumm." Viele Firmen schicken ihre Leute früher als sonst nach Hause, die meisten hasten zur Bahn, die jetzt plötzlich völlig überfüllt ist. Manche Kaufhäuser schließen schon am sechs Uhr, anstatt um zehn Uhr abends, wie sonst. Einige, der schwedische Klamottenriese H&M zum Beispiel, machen gar nicht auf.

Wo Kneipen sind, ist auch am späten Abend noch Leben, getrunken wird immer. Doch die Ginza, die teuerste Einkaufsmeile der Welt, ist am frühen Abend so leer wie sonst erst spät in der Nacht. Und so dunkel wie jetzt sind die Nächte in Tokio sonst nie. Auch ohne Blackout.

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SZ vom 24.03.2011/beu
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