Atomkatastrophe in Japan:Eine Röntgenaufnahme pro Stunde

Innerhalb und außerhalb der Evakuierungszone um das havarierte AKW Fukushima-1 wurden deutlich erhöhte Strahlenwerte gemessen. Aber was bedeuten diese Zahlen für die Menschen dort tatsächlich?

Markus C. Schulte von Drach

Die Menschen, die die Region um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima-1 verlassen mussten, sind verzweifelt. So verzweifelt, dass manche von ihnen bereits in die Sperrzone zurückgekehrt sind, die im Umkreis von 20 Kilometern um die Anlage eingerichtet wurde. Manche wollen nur Wertgegenstände aus ihren Häusern retten, andere ganz in der Heimat bleiben. Die Regierung aber plant nun, die Evakuierungszone sogar auf 30 Kilometer auszuweiten. Greenpeace fordert sogar, die Menschen müssten aus einer Zone 40 Kilometer um das Kraftwerk herausgeholt werden. Und die Vereinigten Staaten und Australien empfehlen ihren Bürgern, 80 Kilometer Abstand zu halten.

Japanese Nuclear Disaster

Eine Strahlendosis von 2,8 Mikrosievert (0,0028 Millisievert) pro Stunde haben Mitarbeiter von Greenpeace in der Stadt Koriyama - etwa 60 Kilometer von Fukushima-1 entfernt - gemessen.

(Foto: dpa/Greenpeace)

Doch wie groß ist das Risiko wirklich?

Zum einen hängt die Strahlenbelastung in der Region um Fukushima-1 davon ab, wie viel und welche radioaktiven Isotope in die Atmosphäre gelangen, sowie von der Windrichtung und vom Wetter. Kommt es etwa erneut zu einer Wasserstoffexplosion in einem der Reaktorblöcke, weht außerdem der Wind Richtung Landesinnere und regnet es schließlich noch über Ortschaften, dann kann die Strahlendosis, mit der die Menschen dort rechnen müssen, deutlich erhöht sein. Unter günstigeren Umständen tauchen in der Region nur relativ wenige radioaktive Isotope auf.

Doch was heißt "deutlich erhöht"?

Die extremsten Strahlendosen findet man natürlich auf dem Gelände der Anlage Fukushima-1 selbst. Der höchste Wert, der bislang überhaupt gemessen wurde, betrifft Wasser im Reaktorblock 2: mehr als 1000 Millisievert (1 Sievert) pro Stunde. Hier hatten Arbeiter der Firma Tepco bereits nach einer Viertelstunde die Gesamthöchstdosis für ihren Einsatz (250 Millisievert) erreicht. Darüber hinaus erlitten zwei Männer durch den direkten Kontakt mit dem radioaktiven Wasser Hautschäden.

Die für die Menschen in der Umgebung bedeutsameren aktuellen Werte stammen von der Südseite des Verwaltungsgebäudes der Anlage und liegen bei 0,6 bis 0,7 Millisievert pro Stunde. Dort wäre ein Mensch bereits nach etwa eineinhalb Stunden einer Strahlenbelastung ausgesetzt, die als Jahreshöchstgrenze für die Bevölkerung in Deutschland gilt. Zum Vergleich: Eine Mammografie belastet den Körper - einmalig - mit etwa 0,2 bis 0,6 Millisievert.

In der weiteren Umgebung der Anlage sind die Werte mancherorts ebenfalls hoch, aber natürlich deutlich geringer als direkt am Kraftwerk. 0,16 Millisievert pro Stunde sollen es der Internationalen Atomenergiebehörde zufolge am 21. März in Namie gewesen sein, einem Ort innerhalb der 20-Kilometer-Zone. Doch auch in einer Distanz von 30 bis 40 Kilometern um Fukushima-1 hat die Umweltorganisation Greenpeace Ende März Werte von bis zu 0,1 Millisievert pro Stunde festgestellt. Und in der Stadt Litate, immerhin 40 Kilometer vom Krisenreaktor entfernt, waren es am 27. März noch 0,01 Millisievert pro Stunde. Letztere Dosis entspricht etwa einer Röntgenaufnahme der Zähne.

Vor einigen Tagen wurden darüber hinaus Messungen des Kraftwerkbetreibers Tepco innerhalb der Sperrzone bekannt: 0,05 Millisievert pro Stunde wurden dort Anfang April in der Luft gemessen - das entspricht etwa der gesamten Strahlenbelastung während eines Fluges von Frankfurt nach New York - jede Stunde aufs Neue. Und in der Stadt Fukushima City, 60 Kilometer entfernt vom Atomkraftwerk, hatte Greenpeace auf einem Spielplatz eine Bodenprobe genommen und immerhin noch 0,004 Millisievert pro Stunde gemessen. Hier hätte ein Mensch innerhalb von zehn bis elf Tagen die Gesamthöchstdosis von einem Millisievert erreicht, die in Deutschland für die normale Bevölkerung für ein Jahr zugelassen ist.

Die Beispiele zeigen, dass je nach Ort und Umständen Menschen in der Evakuierungszone durch eine Strahlung belastet sein können, die einer stündlich wiederholten Röntgenaufnahme der Zähne (0,01 mSv) oder des Brustkorbs (0,02 bis 0,08 mSv) entspricht. Abhängig vom Aufenthaltsort könnten sie innerhalb von zehn bis hundert Stunden die in Deutschland zugelassene Jahresgesamtdosis erhalten. Deutlich länger dürften sie sich dort aufhalten, wenn der Jahresgrenzwert angelegt würde, der in Deutschland für beruflich der Strahlung ausgesetzte Arbeiter - etwa in einem Atomkraftwerk - gilt: Diese Dosis liegt bei 20 Millisievert.

Doch was heißt das nun für die Menschen, die ihre Wohnungen und Häuser in der Sperrzone besuchen wollen?

Was bedeutet die Strahlung für Menschen in der Sperrzone?

Zum einen müssen sie nicht befürchten, akut strahlenkrank zu werden. Sie müssen allerdings damit rechnen, dass langfristig ihr Krebsrisiko steigt.

Wie groß das Risiko ist, lässt sich für den Einzelnen nicht exakt sagen. Wenn man Pech hat, können schon die ersten Alpha-, Beta- oder Gammastrahlen, die den Körper treffen, das Erbgut beschädigen und langfristig die Entstehung von Krebs fördern. Hat man dagegen Glück, passiert nichts, oder der Körper repariert einen entstandenen Schaden selbst. Je höher aber die Dosis ist, die man insgesamt aufnimmt, desto größer ist das Risiko für gefährliche "Treffer".

Das ist wie beim Würfeln: Schon der erste Wurf kann eine Sechs sein. Aber in der Regel muss man dafür mit einem Würfel häufiger würfeln. Wenn man allerdings von vorn herein eine ganze Menge Würfel einsetzt, steigt die Chance, dass schon beim ersten Mal Sechsen dabei sind. Und je mehr Würfel, desto mehr Sechsen.

Deshalb kann unterhalb der Schwelle der radioaktiven Belastung, die direkt zur Strahlenkrankheit führt, das Risiko nur geschätzt werden. Im Bundesamt für Strahlenschutz heißt es, dass eine Dosis von 100 Millisievert in einer betroffenen Bevölkerungsgruppe die Krebsrate um ein Prozent erhöht. Etwa 1000 Millisievert Gesamtdosis erhöhen die Rate um etwa zehn Prozent.

Sollten Einwohner der Region um Fukushima-1 tatsächlich in ihre Wohnungen zurückkehren, um Wertgegenstände zu holen oder gar zu bleiben, so müssten sie entscheiden, ob ihnen dies ein erhöhtes Krebsrisiko wert ist. Bei einer Strahlendosis von 0,05 Millisievert pro Stunde, wie sie von Tepco innerhalb der Sperrzone gemessen wurden, müsste man also nach etwa 83 Tagen davon ausgehen, dass das eigene Krebsrisiko ganz leicht erhöht ist. Und nach etwas mehr als zwei Jahren würde einer von zehn Betroffenen statistisch gesehen irgendwann an Krebs erkranken.

Bei einer Dosis von 0,1 Millisievert pro Stunde, wie sie in der Evakuierungszone ebenfalls gemessen wurde, muss nach etwa 42 Tagen jeder Hundertste beziehungsweise nach 417 Tagen jeder Zehnte mit einer späteren Krebserkrankung rechnen. Bei einer Dosis von 0,2 Millisievert pro Stunde - ein Wert, mit dem man in der Sperrzone mancherorts vermutlich rechnen muss -, wäre das Krebsrisiko bereits nach drei Wochen messbar erhöht.

Dass die Betroffenen aber tatsächlich an Krebs erkranken, steht damit eben nicht fest. Und auf der anderen Seite wird bei manchem schon in der ersten Minute die Grundlage für einen Tumor gelegt. Dazu kommt, dass 100 Millisievert Gesamtdosis auch die Schwellendosis für Fehlbildungen oder den Tod ungeborener Kinder ist.

Außerdem ist es denkbar, dass die Strahlung örtlich deutlich über diese Dosen hinausgehen kann. Das hängt, wie gesagt, von der Situation in Fukushima-1, vom Wind und vom Wetter ab. Nicht berücksichtigt ist in diesen Berechnungen, dass die Strahlung langfristig davon abhängt, von welchen Isotopen die Radioaktivität stammt. Greenpeace berichtete etwa, dass 80 Prozent der Radioaktivität in Fukushima City von Cäsium-Isotopen stamme. Cäsium-137 hat eine Halbwertzeit von etwa 30 Jahren und Cäsium-134 von zwei Jahren. Ohne Dekontaminierung wären die Menschen hier also noch einige Jahre einer relativ hohen Strahlung ausgesetzt.

Und was ebenfalls nicht berücksichtigt ist, ist die generelle Unsicherheit, die bezüglich der radioaktiven Strahlung herrscht. So wird noch immer heftig um mögliche langfristige Effekte gestritten, die von der Strahlung eines AKW im Normalbetrieb ausgeht. So halten es manche Experten für möglich, dass zum Beispiel die relativ hohe Zahl von Leukämie-Erkrankungen unter Kindern in der Umgebung des AKW Krümmel mit radioaktiver Strahlung aus dem Kraftwerk zusammenhängt. Andere Fachleute dagegen halten das angesichts der Messwerte für ausgeschlossen.

Womit die Menschen in der Evakuierungszone auf jeden Fall nicht rechnen müssen, sind sichtbare Folgen wie Hautrötungen, die erst ab einer Dosis von 500 Millisievert auftreten, oder Verbrennungen, Symptome von Strahlenkrankheit oder baldiger Tod.

Um eine Dosis zu erhalten, bei der ohne Behandlung die Hälfte der Betroffen stirbt, müsste man sich für drei bis vier Stunden ohne Schutzanzug ins Wasser des Reaktorblocks 2 von Fukushima-1 legen, dessen Strahlung bei 1000 Millisievert pro Stunde liegt. Und acht Stunden unter diesen Bedingungen würde man mit großer Sicherheit nicht lange überleben - selbst mit medizinischer Behandlung.

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