Süddeutsche Zeitung

Atomkatastrophe in Japan: Die Szenarien:Entweder Harrisburg - oder Tschernobyl

Japan klammert sich an die Hoffnung, dass sich eine vollständige Kernschmelze in Fukushima-1 noch verhindern lässt. Wie könnte das gelingen - und was, wenn es schiefgeht?

Markus C. Schulte von Drach

Dächer und Wände weggesprengt, Teile der Atomanlage unter freiem Himmel - die Lage in Fukushima-1 ist kaum unter Kontrolle zu bekommen. Wie geht es weiter? Ist eine Verstrahlung der Umgebung wirklich noch abzuwenden?

Die Situation im dem havarierten Atomkraftwerk ist unübersichtlich - und genauso unklar ist, was in den kommenden Stunden geschehen wird. Alles hängt davon ab, was die Bemühungen der japanischen Hilfskräfte bewirken.

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Die meisten Informationen über den Zustand der Anlagen stammen von der Betreiberfirma Tokyo Electric Power Company (Tepco), deren Sprecher immer wieder nur unklare und widersprüchliche Aussagen gemacht haben. Ihnen zufolge sieht die Lage so aus:

In den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 sind die Brennelemente beschädigt, wegen des Kühlungsausfalls. Vermutlich sind sie sogar teilweise schon geschmolzen.

Dächer und Teile der Seitenwände der Reaktorgebäude wurden durch Wasserstoffexplosionen weggesprengt. Der Zustand der inneren Reaktorhüllen ist unklar - zu hoffen wäre, dass die Spezialbehälter noch intakt sind. Aber schon bei der nächsten Schutzhülle, dem Containment, gibt es Hinweise darauf, dass die Blöcke 2 und 3 Löcher haben.

Die Hilfskräfte versuchen derzeit, die Reaktorbehälter mit Meerwasser zu kühlen - inzwischen auch mit Hilfe von Hubschraubern aus der Luft. Vielleicht gelingt es den Einsatzkräften, die überhitzten Reaktorkerne in den Blöcken 1, 2 und 3 in den kommenden Tagen mit Wasser abzukühlen und genug Borsäure einzuleiten. Neu verlegte Stromleitungen sollen darüber hinaus in den Reaktorblöcken 1 und 2 das Kühlsystem wieder in Gang bringen. Entsprechende Maßnahmen sind für die Blöcke 3 und 4 geplant.

In den Reaktorblöcken 3 und 4 haben allerdings auch die Kühlsysteme in den Abklingbecken versagt. In diesen Becken lagern Brennelemente nach ihrem Einsatz im Reaktorkern, um abzukühlen und einen Teil ihrer restlichen radioaktiven Strahlung abzugeben.

Weil das Dach dieser Gebäude ganz oder teilweise weggesprengt wurde und die Abklingbecken im oberen Teil der Gebäude liegen, bedeuten dies, dass die Becken dort offenbar frei liegen - und zumindest teilweise gilt das auch für die Brennelemente, die sich darin befinden. Und von diesen Brennelementen geht extrem starke Strahlung aus.

Um die Becken wieder mit Wasser zu füllen oder wenigstens die trocken liegenden Brennstäbe zu kühlen, wird versucht, sie mit Meerwasser von Hubschraubern aus und mit Wasserwerfern zu füllen. Bei Block 4 ist dies schwierig, da noch Teile des Daches vorhanden sind. Nun wird überlegt, das Kraftwerk unter einer Deckschicht aus Sand und Beton zu begraben.

Wie konnte es überhaupt zu dieser Situation kommen?

Die Reaktoren wurden zwar beim Erdbeben abgeschaltet. Doch die Brennelemente produzieren Nachzerfallswärme - weil die zuvor entstandenen Spaltprodukte weiter zerfallen. Nur neue Kernspaltungen finden in intakten Brennstäben nicht mehr statt, die Kettenreaktion ist unterbrochen.

Die Nachzerfallswärme entspricht etwa acht bis zehn Prozent der Wärme, die bei Volllastbetrieb anfällt. Nach einer Minute sind es noch fünf Prozent und nach einem Tag nur 0,5 Prozent. In Japan hat die Nachzerfallswärme zum Super-GAU geführt - weil die Kühlung der Brennelemente nach dem Tsunami ausgefallen ist. Die Brennstäbe wurden heißer, offenbar schmolzen sie teilweise.

Sollten sie nun vollständig schmelzen und die Kernbrennstoffe zu einem nuklearen Brei zusammenfließen, könnte es erneut zur Kettenreaktion kommen. Die zugeführte Borsäure soll dies verhindern.

Eine erste Entscheidung über eine nukleare Katastrophe - wenn man nicht bereits jetzt von einer solchen sprechen will - fällt innerhalb der nächsten zwei Tage. Sie hängt ab von der Entwicklung in den Abklingbecken in den Blöcken 3 und 4. Ist das überstanden, muss die Kühlung der Reaktorkerne noch einige Tage gewährleistet bleiben.

Wenn die Maßnahmen zur Kühlung der Reaktorkerne und der Brennelemente in den Abklingbecken greifen und neue Kettenreaktionen vermieden werden, wenn die Reaktorbehälter und Containments also intakt bleiben, dann könnte sich die Situation binnen Tagen beruhigen. Eine Schicht aus Sand und Beton könnte außerdem helfen, den Austritt weiterer Strahlung zu verhindern.

Trotz aller Schreckensmeldungen über steigende Radioaktivität in Tokio und anderen Orten - noch ist nur die Umgebung des Kraftwerks tatsächlich verstrahlt. Die Menschen, die dort arbeiten, sind extrem gefährdet. Aber schon einige Kilometer von Fukushima-1 entfernt liegt die Strahlung bisher nicht wesentlich höher als sonst. Einzelne Messungen deutlich erhöhter Werte in größerer Entfernung lassen sich nur schwer bewerten, sind derzeit aber noch kein Grund zur Panik - jedenfalls nicht außerhalb der Region oder gar in Europa oder den USA. Das gleiche gilt für radioaktive Isotope, die in Milch und Spinat, im Trinkwasser und im Meerwasser in der Region festgestellt worden sind.

Gelingt es den Technikern, die Kernschmelze zu stoppen, würde die Situation an den Vorfall von Three Mile Island bei Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania aus dem Jahr 1979 erinnern. Auch dort waren die Brennelemente in einem Reaktor teilweise geschmolzen, der Prozess wurde durch Kühlmaßnahmen aber aufgehalten. Radioaktives Material gelangte kaum in die Umwelt. In benachbarten Blöcken des Atomkraftwerks wurde nach dem Unglück sogar weiter Strom erzeugt. Auch Todesopfer gab es dort offiziell nicht.

In Japan dagegen zeichnet sich jetzt schon ab, dass jene 50 Techniker, die noch immer versuchen, das Schlimmste zu verhindern, die Katastrophe kaum überleben dürften. Auch ist mehr Radioaktivität ausgetreten als in den USA. Welche Folgen die geringe zusätzliche Strahlenbelastung außerhalb der bereits jetzt verstrahlten Umgebung von Fukushima-1 in Japan im günstigsten Fall haben werden, lässt sich nicht sagen. Nachweisbar werden sie vermutlich nicht sein - auch wenn radioaktives Jod inzwischen sogar im Trinkwasser der Hauptstadt Tokio entdeckt wurde.

Wenn die Maßnahmen nicht reichen, um die Reaktoren ausreichend zu kühlen, droht eine vollständige Kernschmelze. Findet diese in einem der Reaktorkerne statt, wird sich der dabei entstehende, mehr als 2000 Grad heiße nukleare Brei durch die Schützhüllen brennen, also den Druckbehälter aus Spezialstahl und das Containment. Dabei könnte die Schmelze in Kontakt mit Wasser kommen, eine Explosion könnte die Folge sein, durch die radioaktives Material in die Höhe geschleudert würde. Die nächste Hürde, die sich dem geschmolzenen Material in den Weg stellt, ist der Betonboden unter dem Containment. Ob dieser den Brei aufhalten kann, ist mehr als fraglich. Vielmehr dürfte der geschmolzene Kern ihn ebenfalls überwinden und ins Erdreich eindringen.

Was dann geschieht, hängt von der Beschaffenheit des Bodens ab. Stößt die heiße Masse auf größere Mengen Wasser, kommt es zur Explosion. Die radioaktiven Stoffe werden großräumig verteilt. Von der Stärke der Explosionen hängt ab, wie viel und wie weit radioaktive Stoffe in die Atmosphäre geschleudert werden. Der Boden unter Fukushima-1 dürfte relativ trocken sein. Er besteht aus Tonstein, der als relativ wasserdicht gilt, sagte Andreas Küppers vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam der Zeitung Die Welt. Darum gibt es Grund zur Hoffnung, dass das Allerschlimmste ausbleibt.

In jedem Fall aber würde so viel Strahlung frei, dass an weitere Arbeiten in Fukushima-1 nicht mehr zu denken wäre. In der Folge würde die Kühlung der anderen Reaktorblöcke mit Meerwasser ausfallen. Auch dort dürfte es zur Kernschmelze kommen - mit den gleichen Folgen.

In der Erde würden sich die geschmolzenen Massen schließlich abkühlen. Doch der Boden und das Grundwasser wären womöglich nachhaltig verseucht. Die Region in rund dreißig Kilometer Umkreis müsste auf Dauer gesperrt werden.

Neben den Brennelementen in den Reaktorkernen geht auch von den Brennstäben in den Ausklingbecken eine große Gefahr aus. Gelingt es nicht, diese ausreichend zu kühlen, ist bei ihnen eine Kernschmelze ebenfalls nicht ausgeschlossen. Und auch hier könnte es offenbar zu Kettenreaktionen kommen.

Diese Prozesse fänden dann nicht in einem geschlossenen Spezialbehälter statt - sondern gewissermaßen unter freiem Himmel.

Inwieweit der Versuch, das Kraftwerk unter einer Schicht von Sand und Beton zu begraben, helfen kann, ist unklar. Auf jeden Fall kann eine Betondecke wenigstens einen Teil der Strahlung bremsen.

Ob eine radioaktive Wolke dichtbevölkerte Gebiete erreichen und belasten würde, bestimmt das Wetter. Weht der Wind in Richtung Tokio und kommt es dort zu Niederschlägen, drohen dort langfristige Folgen für die Gesundheit der Menschen - insbesondere höhere Krebsraten.

Die Situation würde dann jener von 1986 in der heutigen Ukraine nach der Katastrophe von Tschernobyl ähneln. Allerdings war es dort in einem aktiven Kernreaktor zur Kernschmelze und zu einer gewaltigen Explosion gekommen, die große Mengen radioaktiven Materials in die Atmospähre geschleudert hatte.

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