Süddeutsche Zeitung

Kernkraft:Für die Zukunft zu spät

Zehn Jahre nach der Katastrophe von Fukushima wachsen die Hoffnungen auf die Kernkraft: Können neue Konzepte sie von Risiken und Altlasten befreien? Zwei Gutachten für eine Bundesbehörde stellen das infrage.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Das, was manche für die Zukunft halten, hat die Form eines Bauklotzes und schwimmt in einer Bucht der Ostsibirischen See. Seit September 2019 liegt dort die Akademik Lomonossow vor Anker, ein schwimmendes Atomkraftwerk. Zwei kleine Druckwasserreaktoren, jeder mit 35 Megawatt Leistung, versorgen vom Meer aus die Gegend um die Hafenstadt Pewek. Das "nördlichste Atomkraftwerk der Welt", schwärmt Betreiber Rosatom. Und möglicherweise ist es erst der Anfang einer ganzen Flotte schwimmender Bauklötze: Bestückt mit "small modular reactors" (SMR), kleinen modularen Atomkraftwerken.

Sie sind Teil einer neuen Erzählung von der Atomkraft. Sie geht, ganz grob, so: In Serie produziert seien diese Anlagen billiger. Wegen ihrer geringen Größe und dank fortschrittlicher Reaktorkonzepte seien sie auch sicherer. Das Atommüll-Problem lasse sich durch Umwandlung langlebiger radioaktiver Stoffe in kurzlebige in den Griff bekommen. Wird die Atomenergie doch noch zum risikoarmen Partner im Kampf gegen die Erderhitzung?

Die Hoffnungen sind groß. In seinem neuen Buch "Wie wir die Klimakatastrophe verhindern" (Piper) wirbt auch der Milliardär und Philanthrop Bill Gates für SMR, vor allem für den seiner Firma Terrapower. "Wir meinen, ein Modell entwickelt zu haben, bei dem alle wichtigen Probleme gelöst sind", so Gates. Selbst mit Atommüll lasse er sich betreiben. Es wirkt fast, als bahne sich eine neue Energiewende an, diesmal zurück zum Atom.

Doch zwei Gutachten, die an diesem Donnerstag veröffentlicht werden, mahnen zur Vorsicht. In Auftrag gegeben hat sie das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, kurz Base, sie liegen der Süddeutschen Zeitung vor. Danach haben die Technologien, seien es neue Reaktorkonzepte oder Verfahren für die Verminderung der Abfälle, einige Haken. Sie bergen enorme Risiken mit Blick auf die Verbreitung waffenfähiger Stoffe und werden wohl nie so preisgünstig, wie ihre Fürsprecher behaupten.

So untersuchte das Öko-Institut insgesamt 31 SMR-Konzepte, wie sie nicht nur in Russland, sondern auch in China, den USA, Kanada und Argentinien derzeit verfolgt werden. Zwar konstatieren die Gutachter, dass sich durch das geringere radioaktive Inventar sicherheitstechnische Vorteile gegenüber größeren Kernkraftwerken erzielen ließen. Allerdings gehe dies oft mit geringeren Vorkehrungen etwa bei Sicherheitssystemen oder im Notfallschutz einher. Schraubt man sie hingegen herauf, steigen auch die Kosten.

Die Baukosten je Megawatt Leistung wären hoch

Der Charme der modularen Anlagen, ihre geringe Größe, ist zugleich ein Nachteil. So müssten, um allein die heute gut 400 großen Reaktoren zu ersetzen, "viele Tausend bis Zehntausend SMR-Anlagen" gebaut werden. Das aber wirft Fragen für die Proliferation, die Verbreitung gefährlichen nuklearen Materials, auf. "Bereits durch die theoretisch höhere Anzahl an Reaktoren an verschiedenen Standorten gibt es mehr Möglichkeiten für Proliferation, und gleichzeitig erhöht sich der Aufwand für Überwachungsmaßnahmen", warnt das Öko-Institut. Diese Überwachung werde noch erschwert, wenn die Anlagen in entlegenen Regionen eingesetzt würden. Völlig unkalkulierbar würden die Risiken, sollten die Anlagen tatsächlich massenhaft zum Einsatz kommen, sagt Christoph Pistner, Nuklear-Experte des Öko-Instituts. "Da gibt es auf jeden Fall mehr Probleme, als es Lösungen gibt."

Auch die spezifischen Baukosten je Megawatt Leistung seien hoch, höher als bei erneuerbaren Energien in Verbindung mit Speichern. Kostensenkungen aus der Massenproduktion seien nach allen Erfahrungen dieser Industrie nicht zu erwarten - jedenfalls nicht, ehe nicht 3000 dieser Reaktoren gebaut sind.

Noch vernichtender fällt das Urteil aus, das Experten des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Wiener Universität für Bodenkultur über Verfahren für den Atommüll fällen. Die Gutachter betrachteten drei Szenarien für die Transmutation, die hochradioaktive, langlebige Stoffe in andere mit kürzerer Halbwertszeit umwandeln soll. In keinem davon würde ein Endlager überflüssig. Im besten Fall ließ sich die Menge der anfallenden Transurane von 150 auf 30 Tonnen reduzieren - über 300 Jahre. In einem anderen Szenario lagen am Ende von einigen langlebigen Spaltprodukten größere Mengen vor als zu Beginn. Bereits verglaste Abfälle aus der Wiederaufarbeitung ließen sich ohnehin nicht mehr verarbeiten. Sie machen aber 40 Prozent der hochradioaktiven Abfälle in Deutschland aus. Die Menge an schwach- und mittelaktiven Abfällen, wie sie auch beim Rückbau kerntechnischer Anlagen anfallen, würde "massiv" ansteigen; zumal jedes der Konzepte einen "Wiedereinstieg in ein großskaliges kerntechnisches Programm" verlange, wie es heißt.

Auch hier läge in der Proliferation das größte Risiko. Aus den Brennstoffen müsse praktisch alles Plutonium separiert werden, um an den diversen Anlagenstandorten zum Einsatz zu kommen. "So bestünde langfristig ein direkter Zugriff auf waffengrädige nukleare Materialien", warnt das Gutachten. Die beiden Gutachten zeigten, dass die Technologien weder Altlasten beseitigen noch die Zukunftsfrage Klimawandel lösen könnten, sagt Base-Chef Wolfram König.

Bis ins Letzte erforscht sind die Verfahren ohnehin nicht, und auch die modularen Reaktoren sind, vom schwimmenden Bauklotz mal abgesehen, meist noch im Entwicklungsstadium. Für den Abschied vom fossilen Zeitalter kämen sie zu spät.

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