Atmosphäre:Geheimnisse in eisigen Höhen

Wissenschaftler verwenden unbemannte Ballone, Raketen und Spezialflugzeuge, um den Himmel über unseren Köpfen zu untersuchen. Aber auch nach mehr als hundert Jahren Forschung birgt die Stratosphäre oberhalb von 15 Kilometern viele ungelöste Rätsel. Sogar merkwürdige Bakterien wurden dort aufgespürt.

Gerhard Hertenberger

Mit dröhnenden Triebwerken steigen moderne Passagierflugzeuge in den Himmel hinauf. Nach wenigen Minuten, in einer Reiseflughöhe zwischen zehn und zwölf Kilometern, meldet der Pilot oft eisige minus 50 Grad Celsius Außentemperatur. Unten schweben weiße Wolkenberge, oben zeigt sich die monotone Einsamkeit des Himmels, der in dieser Höhe bereits dunkler wirkt als von der Erde aus gesehen.

Atmosphäre

Blick aus der Internationalen Raumstation. Aus großer Höhe wirkt die Lufthülle der Erde schmal und verletzlich. Insbesondere die äußerste Schicht fasziniert Forscher seit mehr als 100 Jahren.

(Foto: Nasa)

Tatsächlich sind die noch höher liegenden Atmosphärenschichten oberhalb von 15 Kilometern eine eigenartige Welt, geprägt von Temperaturanomalien und Druckwellen. Aktuelle Forschungsprogramme untersuchen unter anderem bakterielle Überlebenskünstler, die dort oben der UV-Strahlung und der eisigen Kälte trotzen. Erste Versuche, in diese Region der irdischen Lufthülle, die Stratosphäre, vorzudringen, gab es jedoch schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Am 31. Juli 1901 versuchten zwei Forscher des Königlichen Meteorologischen Instituts zu Berlin, Reinhard Süring und Arthur Berson, erstmals in den Bereich oberhalb der Wetterphänomene aufzusteigen.

Unbemannte Ballonsonden hatten zuvor merkwürdige Temperaturanstiege in großer Höhe entdeckt, und die beiden Männer wollten persönlich vor Ort testen, ob die Messinstrumente in der dünnen Luft korrekt funktionierten.

In einer offenen Gondel, die unter einem gewaltigen wasserstoffgefüllten Ballon hing, schwebten sie vom Tempelhofer Feld bei Berlin in den Himmel hinauf. Nach 40 Minuten, in 5000 Metern Höhe, begannen sie, durch Schläuche mitgeführten Sauerstoff zu atmen. Der sinkende Luftdruck verursachte jedoch bald eine bleierne Müdigkeit. Nach einer letzten Eintragung im Bordbuch in 10.225 Metern Höhe fielen beide Männer in eine tiefe Ohnmacht, weswegen ihnen wohl auch noch ihre Sauerstoffschläuche entglitten. Zuvor gelang es Berson gerade noch, das Ventil für den Abstieg zu öffnen.

Geschwächt erwachten sie während des Sinkflugs in 6000 Metern Höhe, mühsam gelang es ihnen, den unkontrollierten Abstieg zu bremsen. Kraftlos, aber unverletzt, landeten sie kurz darauf in der Nähe von Cottbus.

Auch wenn es auf hohen Berggipfeln kälter ist als im Tal, zeigten die Messreihen jener Jahre, dass im Bereich zwischen acht (Polarregionen) und fünfzehn Kilometern Höhe (Tropen) - ein Temperaturminimum von rund minus 60 Grad erreicht wird. Darüber wird es langsam wieder wärmer, was hoch oben eine stabile Schichtung ergibt, da kalte Luft schwerer ist als warme. Dieser Luftbereich über der verwirbelten unteren Wetterschicht, der Troposphäre wurde deswegen 1902 Stratosphäre - geschichtete Lufthülle - getauft.

Die Aufheizung in großen Höhen entsteht dadurch, dass UV-Strahlung der Sonne Sauerstoff in dreiatomiges Ozon umwandelt. Das UV-Licht wird von dieser Ozonschicht teilweise geschluckt und in Wärme umgewandelt. Die Ozonanreicherung in 20 bis 30 Kilometer Höhe wurde erstmals 1913 von zwei französischen Physikern entdeckt, die im ultravioletten Licht des Himmels eine entsprechende Absorptionslinie fanden.

Bei Fotografen ist die blaue Stunde nach Sonnenuntergang wegen ihrer Farbeffekte sehr beliebt. Dieses leuchtende Tiefblau des Himmels wird zu zwei Dritteln durch die Ozonschicht verursacht, die das rötliche Licht verschluckt. Der blaue Tageshimmel geht hingegen auf die Streuung des Lichts an normalen Sauerstoffatomen zurück.

Kosmische Partikelstrahlung ist in der Hochatmosphäre wesentlich stärker spürbar als am Boden. Erstmals wurde diese Tatsache im Mai 1931 gemessen, als der Schweizer Forscher Auguste Piccard mit seinem Kameraden Paul Kipfer von Augsburg aus in einer unter Druck stehenden Kapsel bis in 15,7 Kilometer Höhe aufstieg. In der darauffolgenden Nacht landeten die beiden Männer unversehrt auf einem Alpengletscher im Tiroler Obergurgl.

Bakterien und Pilze in der Stratosphäre

Zu den merkwürdigsten Phänomenen der Stratosphäre gehören extreme Aufheizphänomene, das sogenannte Berliner Phänomen, das erstmals in den 1950er Jahren mit unbemannten Radiosonden hoch über Berlin bemerkt wurde. In 40 Kilometer Höhe maßen die Instrumente im Winter eisige minus 70 Grad. Im Spätwinter jedoch, meist im Februar, heizte sich die dünne Luft oft schlagartig um unglaubliche 45 Grad auf und war somit wärmer als im Sommer. Eine derart rasche und heftige Erwärmung der Luftmassen wäre am Erdboden undenkbar.

Atmosphäre

Die Atmosphäre streut blaues Licht stärker als Licht mit anderen Wellenlängen. Deshalb sieht man hier am "Rand" der Erde einen blauen Streifen.

(Foto: Nasa)

Erst heute gelingt es mit komplexen Strömungssimulationen und Satellitenmessungen, die Ursachen dieser und anderer dynamischer Phänomene in der Stratosphäre zu verstehen. Diese ist nämlich keineswegs ruhig und stabil, wie anfangs vermutet. Über dem Nordpol kreist vielmehr ein eiskalter Höhenwirbel, der durch Druckwellen aus den Tiefen der Troposphäre zuweilen zusammenbricht, wobei es dann zu dem radikalen Temperaturanstieg kommt.

Noch immer ungeklärt ist eine merkwürdige gut zwei Jahre dauernde Oszillation hoch über dem Äquator: In einer Periode von 28 bis 29 Monaten wiederholt sich ein Wechsel von heftigen West- und Ostwinden. Die Entstehung dieser Zyklen, die nicht mit den Jahreszeiten korrelieren, ist unklar.

In der eisigen, dünnen Luft der Stratosphäre wurden sogar geringe Mengen verschiedener Bakterienarten nachgewiesen. Eine Forschergruppe der walisischen Cardiff-Universität verstieg sich 2001 zu der Behauptung, in 41 Kilometer Höhe eingesammelte Zellklumpen müssten außerirdischen Ursprungs sein, weil irdische Zellen kaum so hoch aufgewirbelt werden könnten. Die Mehrheit der Experten nimmt jedoch an, dass es sich bei den damals indirekt nachgewiesenen Zellen um irdische Bakterien handelte.

2009 gelang es indischen Forschern, in der Stratosphäre zwölf bakterielle und sechs Pilzspezies mittels Gensequenzierung systematisch einzuordnen. Drei Bakterienarten waren vom Erdboden her nicht bekannt und zeigten eine enorm hohe Widerstandsfähigkeit gegen die erbgutschädigende UV-Strahlung. Und am unteren Rand der Stratosphäre wurden vereinzelt sogar Vögel gesichtet, beispielsweise über der Elfenbeinküste, wo im November 1975 in 11,5 Kilometer Höhe ein Sperbergeier von einem Flugzeugtriebwerk eingesaugt wurde.

Aktuelle Forschungsprogramme verwenden nicht nur unbemannte Ballone, sondern auch ballistische Raketen und Spezialflugzeuge, um Instrumente in große Höhen zu befördern. Jets mit luftatmenden Triebwerken tun sich dabei allerdings schwer, weil in der dünnen Luft der Auftrieb sinkt und wenig Sauerstoff für den Verbrennungsprozess vorhanden ist.

In den USA werden umgebaute Exemplare des Spionageflugzeugs Lockheed U-2 unter der Bezeichnung ER-2 immer wieder für Forschungszwecke in große Höhen geschickt. Eines von ihnen erreichte im November 1998 im Auftrag der Nasa 20,5 Kilometer Höhe. Ähnlich hoch fliegt das russische Pendant, die Mjassischtschew M-55 Geophysika, während das im bayrischen Oberpfaffenhofen stationierte Halo-Flugzeug (High Altitude and Long Range Research Aircraft) lediglich 15 Kilometer Höhe erreicht, wo es unter anderem die Ozonschicht und die Auswirkungen von Luftschadstoffen analysiert.

Künftige Forschungen sollen nicht nur die eigenartigen Wirbel und Oszillationen erklären, sondern auch die Entstehung hauchdünner Zirruswolken aus winzigen Eiskristallen in der Stratosphäre. Eine entscheidende Rolle dabei dürften Aerosole spielen, Schwebeteilchen mit verschiedenster chemischer Zusammensetzung, die auch einen organischen Anteil haben können.

Nur wenige Forscher und Abenteurer haben bisher die eisige, lebensfeindliche Welt jenseits der Wolken bereist, und daran wird sich auch nicht viel ändern, auch wenn von 2012 an gelegentlich ein privates Raumschiff vom Typ Space-Ship-Two mit Passagieren an den Rand des Weltraums gleitet. Die ersten Pioniere waren freilich Reinhard Süring und Arthur Berson, und man fragt sich heute, ob ihr tollkühner Aufstieg im Jahr 1901, den sie damals nur knapp überlebten, eigentlich mutig war, oder einfach nur verrückt.

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