Süddeutsche Zeitung

Astrophysik:Rasante Expansion des Kosmos deutet auf neue Elementarkräfte hin

  • Nach der Messung eines Physik-Nobelpreisträgers liegt die "Hubble-Konstante" rund acht Prozent höher als bislang vermutet.
  • Das bedeutet, dass sich das Universum schneller ausdehnt.
  • Dies lässt sich bislang mit dem physikalischen Standardmodell nicht plausibel erklären.
  • Daher spekulieren Physiker über Ursachen wie eine "Dunkle Energie", die für die beschleunigte Expansion verantwortlich sein könnte.

Von Marlene Weiß

Acht Prozent schneller als erlaubt, das ist bei einer Blitzer-Messung auf der Straße schon eine ziemlich klare Geschwindigkeitsübertretung. Nun muss sich das Universum an keine Verkehrsvorschriften halten. Andererseits kann Raserei im Kosmos weit folgenreicher sein als eine alltägliche Ordnungswidrigkeit. Sollte sich das Universum also acht Prozent schneller ausdehnen als bisher angenommen, könnte das Kosmologen zwingen, ihre Formeln umzuschreiben. Entsprechend groß ist die Aufregung um eine neue Messung der kosmischen Ausdehnung, die ein Team um Adam Riess von der Johns Hopkins University in Maryland vorgestellt hat. Sie soll im Fachmagazin The Astrophysical Journal veröffentlicht werden. Und sie will einfach nicht zu bisherigen Daten passen.

Seit dem Urknall dehnt das Universum sich aus, so dass auch alle Galaxien sich voneinander entfernen wie Rosinen in einem Hefekuchen. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, ist umso größer, je weiter zwei Objekte voneinander entfernt sind - und sie wird bestimmt durch die sogenannte Hubble-Konstante. Aus den jüngsten Messungen des Planck-Satelliten der europäischen Weltraumbehörde Esa ergibt sich dafür ein Wert von etwa 68 Kilometern pro Sekunde pro Megaparsec. Umgerechnet bedeutet das, dass sich Punkte, die heute eine Million Lichtjahre von der Erde entfernt sind, mit rasanten 21 Kilometern pro Sekunde weiter entfernen. Das Team um Riess hat die Hubble-Konstante nun jedoch auf andere Weise gemessen und kommt auf einen Wert von 73,2, acht Prozent mehr als das Planck-Ergebnis.

Das an sich wäre nicht dramatisch; noch vor wenigen Jahrzehnten war die Hubble-Konstante gerade mal auf einen Faktor zwei genau bekannt. Aber die US-Physiker sind überzeugt, dass ihre Messung genauer ist als jede vergleichbare, mit einer Unsicherheit von nur 2,4 Prozent. Wenn das stimmen sollte, gibt es ein Problem: Dann wäre es sehr unwahrscheinlich, dass der Unterschied zwischen den Messungen eine rein statistische Abweichung ist. Entweder ist einer der beiden Werte schlicht falsch - oder aber es ist ungeahnte neue Physik am Werk.

Das Planck-Team hat für seine Messung der Hubble-Konstante einen indirekten Ansatz genutzt. Die Esa-Forscher vermessen mit ihrem Satelliten die sogenannte kosmische Hintergrundstrahlung: eine Art Nachhall des Urknalls, entstanden kurz nach der Geburt des Universums und bis heute messbar. Aus diesen Daten kann man mit einiger Mathematik auch die heutige Hubble-Konstante ableiten - mithin die Geschwindigkeit, mit der sich der Kosmos aktuell ausdehnt.

Das Team um Riess hingegen versucht seit Jahren, die Hubble-Konstante direkt zu messen: aus der Geschwindigkeit, mit der sich Objekte im All von der Erde entfernen. Allerdings muss man dafür wissen, wie groß genau der Abstand dieser Objekte zur Erde ist, und solche Distanzmessungen im All sind notorisch kompliziert.

Experten bleiben äußerst skeptisch: In der neuen Messung könnten Fehler stecken

Die US-Wissenschaftler um Riess untersuchten hierfür mit dem Hubble-Teleskop sogenannte Cepheiden: pulsierende Sterne, deren Rhythmus des Aufleuchtens auf ihre tatsächliche Helligkeit schließen lässt. Diese muss man dann nur noch mit der scheinbaren Helligkeit vergleichen, die in der Erdumlaufbahn im Hubble-Teleskop ankommt. Je größer der Unterschied, desto größer die Entfernung. Im Fall ferner Galaxien nutzten die Forscher zusätzlich Supernovae, Sternexplosionen, um die Distanz genauer zu bestimmen. 2400 Cepheiden in 19 Galaxien gingen in die Messung ein.

Es sei wie der Bau einer Brücke, diese Messung mit der indirekten Vorhersage des Planck-Teams zu vergleichen, sagt Riess in einer Mitteilung der US-Weltraumagentur Nasa: "Man fängt an zwei Enden an, und wenn alles stimmt, trifft man sich in der Mitte. Aber jetzt treffen die beiden Teile nicht exakt aufeinander; und wir wollen wissen, warum."

Tatsächlich könnte die Diskrepanz viele Gründe haben, und für Kosmologen wäre einer aufregender als der andere. Zum Beispiel könnte die Dunkle Energie, die das Universum ausfüllt, mit der Zeit stärker werden. Nach dem aktuellen Standardmodell der Kosmologie treibt diese rätselhafte Energie die Ausdehnung des Universums immer weiter an. Für die Entdeckung dieser beschleunigten Expansion erhielt Adam Riess im Jahr 2011 den Nobelpreis. Auch könnte die Dunkle Materie, der unsichtbare Klebstoff des Alls, andere Eigenschaften haben als gedacht.

Allerdings ist es auch gut möglich, dass die Diskrepanz einen viel banaleren Grund hat; schließlich sind beide Messungen technisch kompliziert und mit Unsicherheiten behaftet. Darum bleiben Experten sehr skeptisch. "Falls die Diskrepanz sich bestätigt, müsste das Standardmodell erweitert werden", sagt Torsten Enßlin, als Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching zuständig für die Analyse der Daten des Planck-Satelliten. "Aber man sollte realistisch bleiben. Es ist wahrscheinlicher, dass sie sich auflöst, weil es doch irgendwo einen Fehler oder einen Effekt gibt, der bislang übersehen wurde."

George Efstathiou, Astrophysiker am Kavli-Institut für Kosmologie in Cambridge und Experte im Planck-Team für das Thema, will Riess' Messung nicht kommentieren, weil die Daten noch nicht veröffentlicht wurden. Aber eins stellt er schonmal klar: "Die Planck-Resultate sind felsenfest."

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Quelle:
SZ vom 07.06.2016
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