Süddeutsche Zeitung

Astronomie:Inventur in der Milchstraße

Das neue europäische Weltraumteleskop "Gaia" soll fünf Jahre lang die Sterne unserer Galaxis vermessen und die bislang größte, beste, präziseste dreidimensionale Karte der Milchstraße erstellen. Zugleich wird sie einen Blick in deren dynamische Vergangenheit möglich machen.

Von Alexander Stirn

Buchhalter gelten nicht unbedingt als die Stars der Arbeitswelt. Sicher, ihre Aufgaben sind wichtig. Aber so richtig beneidet sie kaum jemand um ihren Job. Ähnliches gilt für Astrometer, die Buchhalter unter den Astronomen: Sterne zählen, charakterisieren und in Tabellen schreiben, gilt vielen ihrer Kollegen als eintönig. Wer glänzen will, widmet sich lieber den großen Themen der Astronomie: dem Ursprung des Universums, dem Mysterium der Dunklen Materie, der Suche nach fremden Planeten.

Doch jetzt bekommen die Astrometer ein brandneues Werkzeug in die Hände - und werden darum von ihren Kollegen durchaus beneidet. Gaia heißt das fast eine Milliarde Euro teure Teleskop, das am morgigen Donnerstag ins All starten soll. Seine Aufgabe klingt langweilig, und ist doch äußerst anspruchsvoll: Gaia soll eine Milliarde Sterne in der Milchstraße vermessen.

Die rundliche Sonde soll die Position all dieser fernen Sonnen bestimmen, ihre Geschwindigkeit, Temperatur und Zusammensetzung, und zwar mit einer Genauigkeit, wie sie bislang nicht erreicht worden ist. Gelingt das, liefert das Teleskop am Ende die größte, beste, präziseste dreidimensionale Karte der Galaxis, unserer Heimat im All.

"Es ist zwar schön, Sterne zu betrachten, aber wir wollen mehr wissen", sagt Alvaro Giménez Cañete, Wissenschaftschef der Europäischen Raumfahrtorganisation Esa. "Wir wollen erfahren, wo sie sind, wohin sie sich bewegen, aus was sie bestehen und wie sie sich entwickelt haben - und mit ihnen die gesamte Milchstraße." Für den Spanier ist Gaia der Traum jedes Astronomen: "Da wir nicht zu den Sternen fliegen können, wird diese Sonde uns die Antworten auf all die offenen Fragen liefern."

Neu ist der Ansatz jedoch nicht: Von August 1989 an durchkämmte die europäische Sonde Hipparcos vier Jahre lang den Himmel und katalogisierte etwa 120.000 Sterne mit der ihr möglichen, hohen Präzision. Ihr Vermächtnis, die im Jahr 1997 von der Esa veröffentlichten Karten, sind noch in Gebrauch. Sie sind allerdings nicht sonderlich genau.

"Verglichen mit Hipparcos werden wir hundertmal so genau sein und 10 000-mal so viele Sterne katalogisieren", sagt Giménez. Dazu schießt die Esa nach eigenen Angaben die größte Kamera ins All, die dort jemals geflogen ist: 106 Bildsensoren ergeben zusammen das Auge von Gaia. Gemeinsam bringen es die Sensoren auf knapp eine Milliarde Pixel - etwa 50-mal so viel wie eine moderne Spiegelreflexkamera. Der Blick dürfte phänomenal sein.Menschliche Augen können Sterne mit einer, wie Astronomen es nennen, scheinbaren Helligkeit von sechs Magnituden ausmachen. Hipparcos hat kosmische Objekte vermessen, von denen nur ein 250-stel dieses Lichts ankam. Das neue Teleskop vermag Sonnen abzubilden, die von der Erde aus 400.000-mal so schwach erscheinen.

Etwa 50 Millionen Sterne, die hellsten Objekte, soll Gaia dabei mit besonders hoher Genauigkeit vermessen; die angepeilte Auflösung liegt bei sieben Milliardstel Grad. Das ist, erzählen die Esa-Vertreter in Toulouse stolz, als würde man den Knopf eines Astronauten auf dem Mond abbilden. Das neue Teleskop wird es allerdings nicht bei einer Momentaufnahme des Universums bewenden lassen. Im Laufe der Mission, die auf mindestens fünf Jahre angelegt ist, soll jeder Stern gut 70-mal angepeilt werden. Das verbessert die Genauigkeit, vor allem aber ist es die einzige Möglichkeit, mehr über die Sterne herauszufinden als nur ihre Position am Himmel.

Möglich macht das ein Phänomen, das Physiker Parallaxe nennen: Wer seinen Arm ausstreckt und den empor ausgereckten Daumen einmal nur mit dem rechten und dann nur mit dem linken Auge betrachtet, wird feststellen, dass er sich vor dem Hintergrund zu bewegen scheint. Diesen optischen Effekt wollen die Astronomen mit Gaia ausnutzen. Auf dem Weg um die Sonne legt das Raumschiff große Strecken zurück - sein Auge wandert quasi hin und her. Die beobachteten Sterne verschieben sich damit vor dem galaktischen Hintergrund. Das macht aber selbst für nahe gelegene Sterne nur 0,05 Prozent des Vollmonddurchmessers aus.

Um Rückschlüsse auf die Distanz der Sterne ziehen zu können, muss Gaia diese Bewegung daher äußerst exakt erfassen. Der Weltraum-Geodät, eine zylinderförmige Sonde mit 2100 Kilogramm Gewicht, muss darum äußerst stabil sein. Sie besteht zu einem großen Teil aus Siliziumkarbid, einer besonders widerstandsfähigen Keramik. "Obwohl die Sonde 3,5 Meter lang ist, dürfen sich ihre Bauteile um maximal ein paar Mikrometer verschieben", berichtet Vincent Poinsignon, Projektmanager beim Gaia-Hersteller Astrium.

Auf bewegliche Teile haben die Ingenieure bewusst verzichtet. Während andere Sonden ihre Position mit rotierenden Schwungrädern regeln, setzt Gaia auf sogenannte Kaltgas-Triebwerke - kleine Düsen, die ihren Schub genau dosieren und pro Sekunde nur 1,5 Mikrogramm Stickstoff ins All blasen. Knapp 50 solcher Triebwerke wären auf der Erde nötig, um ein DIN-A4-Blatt anzuheben. "Es hat mehr als sechs Jahre gedauert, dieses Steuerungssystem zu entwickeln", sagt Poinsignon.

Garant für detaillierte Aufnahmen soll zudem ein zuverlässiger Sonnenschutz sein. Nach dem Start an Bord einer russischen Sojus-Rakete in Französisch-Guayana wird Gaia einen mehr als zehn Meter großen Schirm aufklappen - ein hochkomplexes Manöver, das auf der Erde aufgrund der Schwerkraft nie richtig getestet werden konnte. Funktioniert alles wie geplant, wird der Schutzschirm auf seiner Vorderseite mithilfe von Solarzellen Strom erzeugen. Auf der Rückseite herrscht ewige Dunkelheit. Dort wird die Temperatur konstant bei minus 113 Grad Celsius liegen, eine angenehme Arbeitsumgebung für empfindliche Instrumente.

Neben Position und Entfernung will Gaia noch mehr über die beobachteten Sterne erfahren. Ein Teil des aufgefangenen Lichts wird genutzt, um die Farbe der fernen Sonnen zu bestimmen. Mithilfe eines Photometers lassen sich daraus Temperatur und Helligkeit ermitteln, die Rückschlüsse auf Zusammensetzung und Masse erlauben. Der Rest des Sternenlichts wird in seine Bestandteile zerlegt.

Eine Art Fingerabdruck des Sterns entsteht. Aus dessen Verformung können Astronomen ermitteln, mit welcher Geschwindigkeit sich der Stern auf die Sonde zu oder von ihr weg bewegt. "Am Ende werden wir eine dynamische Karte der Milchstraße haben, die uns die Bewegung jedes Sternes zeigt - und mit der wir auch viele tausend Jahre zurückspulen können", sagt Francois Mignard vom Observatoire de la Côte d'Azur in Nizza.

An diesem Punkt werden auch jene Astronomen hellhörig, die Astrometrie langweilig finden. Ein repräsentativer Querschnitt der Milchstraße, mit exakten Informationen zu Sternen und ihren Positionen, sowohl heute als auch vor vielen Jahren, bietet ungeahnte Möglichkeiten. Weit in die Vergangenheit zurückreichende Simulationen können zum Beispiel erklären, ob die Milchstraße einst kleinere Galaxien verschluckt hat. Sie liefern womöglich Hinweise auf die Entstehung der Spiralarme. Sie können zeigen, wie sich die zurzeit noch hypothetische Dunkle Materie auf die Bewegung der Milchstraße auswirkt.

Mignard rechnet zudem damit, dass Gaia etwa 5000 Planeten in anderen Sonnensystemen entdeckt. Da diese sogenannten Exoplaneten an ihren Muttersternen zerren und deren Bewegung beeinflussen, sollten die Begleiter Spuren in Gaias Daten hinterlassen. Auch könnte das Teleskop mehrere zehntausend Asteroiden und ebenso viele Braune Zwerge finden - verhinderte Sterne, die zu massearm sind, um das Sonnenfeuer zu zünden.

Einfach wird das nicht: Eine Milliarde Sterne, etwa ein Prozent der Milchstraße, in fünf Jahren 70-mal zu katalogisieren - das macht pro Tag etwa 40 Millionen Sterne. 50 Gigabyte an Daten fallen dabei an. Sie müssen verarbeitet, eingedampft und zur Erde übertragen werden. Dort sollen sich sechs Rechenzentren um die Analyse kümmern. Sie werden es während der Lebensspanne von Gaia mit mehr als einem Petabyte (einer Million Gigabyte) an Informationen zu tun bekommen. Allein für die Datenverarbeitung rechnet die Esa mit Kosten von 200 Millionen Euro.

Sieben Jahre wird es voraussichtlich dauern, bis Gaias dreidimensionale Karte fertig ist. Dabei hätte sie eigentlich schon längst erstellt sein sollen: Bereits vor 20 Jahren gab es die ersten Pläne für den kosmischen Vermesser, doch die Entwicklung zog sich hin. 2000 genehmigte die Esa schließlich die Mission, erst 2006 konnten die Verträge unterzeichnet werden.

Hinzu kamen technische Probleme, so dass sich der für Oktober 2011 geplante Start immer weiter verzögerte. Zuletzt, Gaia war in Kourou bereits startklar, mussten zwei Transponder ausgebaut und zur Reparatur nach Europa geflogen werden; bei einem anderen Satelliten hatten die gleichen Bauteile kurz nach dem Start Schwächen gezeigt. Insgesamt wird das Teleskop nun wohl etwa 950 Millionen Euro kosten. Das macht, wie die Esa-Astrometer im Stile guter Buchhalters berechnet haben, etwas weniger als ein Euro pro Stern.

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Quelle:
SZ vom 18.12.2013/mcs
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