Süddeutsche Zeitung

Astronomie:Das Auge

Das European Extremely Large Telescope wird neue Planeten aufspüren, verborgene Galaxien und die ältesten Sterne.

Von Alexander Stirn

Die große Hoffnung der europäischen Astronomie hat sechs Ecken und steht verlassen in einer neonhellen Werkshalle. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Lediglich ein Zettel deutet darauf hin, dass hier ein ganz besonderer Prototyp ruht. "E-ELT Versuchsanlage" ist auf dem Blatt zu lesen.

E-ELT. Vier Buchstaben, ein Bindestrich, schier unendliche Erwartungen. Das European Extremely Large Telescope, Europas extrem großer Himmelsspäher, soll die Astronomie revolutionieren. Es soll mit einem fast 40 Meter großen Spiegel tiefer und schärfer ins All blicken als alle Observatorien zuvor. Es soll ferne Planeten, blasse Galaxien und die ältesten Sterne erkunden.

Nach Jahren der Planung, Vorbereitung und Hoffnung beginnt nun endlich die heiße Bauphase. Noch im Mai will die Europäische Südsternwarte Eso die Aufträge für das Spiegelgerüst und die Teleskopkuppel vergeben - die größten Einzelposten in der gut 50-jährigen Geschichte der europäischen Teleskopbauer. Doch schon jetzt ist klar: Sollte sich nicht noch ein Geldgeber finden, wird sich das größte Auge der Menschheit zwei Jahre später als geplant öffnen und zunächst nur in einer abgespeckten Variante.

"Faszinierend, nicht wahr?" Roberto Tamai vergräbt den Kopf unter einem sechseckigen Glaskeramik-Block, der im Foyer des Eso-Hauptquartiers im oberbayerischen Garching ausgestellt ist. Ein Gewirr aus Spulen, Halterungen und beweglichen Armen kommt darunter zum Vorschein. Es ist die gleiche Technik, wie sie ein paar Meter weiter bei den Prototypen in der Werkshalle getestet wird. Roberto Tamai, seit Februar 2014 Projektmanager des E-ELT, wirkt in solchen Momenten wie ein Kind, das schon einmal sein nächstes Weihnachtsgeschenk anschauen darf. "Und das hier ist alles echt", sagt der Italiener. Er grinst.

Wer ein optisches Teleskop mit einem 39 Meter großen Spiegel bauen will, braucht nicht nur viel Geduld, sondern auch viel Liebe zum Detail - bis hin zum winzigen Spulenrad. Einen fast 40 Meter großen, perfekt geschliffenen Spiegel aus einem Stück zu bauen, ist technisch extrem schwierig. Ihn zu transportieren, zu montieren und zu warten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. "Davon können wir nur träumen", sagt Tamai.

Der Spiegel des E-ELT wird deshalb in Einzelteile zerlegt: in 798 sechseckige Segmente, wie sie im Eso-Foyer und in der Werkshalle zu bestaunen sind. Ein jeder Block ist etwa vier Zentimeter dick und misst von Ecke zu Ecke knapp eineinhalb Meter. Angeordnet wird das riesige Puzzle in sechs Sektoren, die sich wie Blütenblätter vom Zentrum nach außen erstrecken. In den Sektoren gleicht kein Spiegel dem nächsten; jedes Sechseck hat eine etwas andere Größe und ist etwas anders geschliffen. Dabei wird höchste Präzision verlangt. Der Schliff darf nur ein paar Millionstel Millimeter (Physiker sprechen von Nanometern) von der berechneten Form abweichen.

Damit ist es allerdings nicht getan. Astronomische Beobachtungsobjekte bewegen sich über den Himmel, der riesige Spiegel muss ihnen folgen. Dabei ändert sich die Lage der einzelnen Segmente und somit auch die Schwerkraft, die die Form der Spiegelblöcke beeinflusst. Zudem zerrt der Wind an der 74 Meter hohen Teleskopkuppel. Und die Temperatur kann sich im Laufe einer Beobachtung verändern - selbst wenn das Innere des Teleskops schon Stunden zuvor an die erwarteten Nachttemperaturen angepasst wurde.

"Wir dürfen nie vergessen, dass wir es nicht mit einer statischen Struktur zu tun haben, sondern dass wir ständig gegen Verformungen durch Schwerkraft, Wind und Temperatur ankämpfen müssen", sagt Tamai. An jeder Kante der Sechsecke sitzen daher zwei Sensoren, die den Abstand und den Versatz zu benachbarten Spiegelsegmenten messen. Das komplexe Gestänge unter den Sechsecken, das Tamais Augen leuchten lässt, ist dazu da, die Höhe, die Neigung und die Position der Spiegelsegmente zu korrigieren. 27 Stößel pressen zudem unterschiedlich stark gegen die Rückseite der Glaskeramikblöcke. Ihre Kräfte reichen, um Verformungen durch die Schwerkraft auszugleichen, die in der Größenordnung von zehn Nanometern liegen. So erhält der massive Block exakt jene Rundung zurück, die nötig ist, um das eingefangene Licht zu fokussieren. Etwa 350 Kilogramm wiegt jedes der 798 Segmente. Noch ist nicht klar, welche Technik sich durchsetzen wird. Die sechseckigen Prototypen, die in der Garchinger Werkshalle getestet werden, stammen von verschiedenen Herstellern und schimmern in unterschiedlichen Farben. "Es gibt einen Wettbewerb", sagt Tamai knapp.

Aus 20 Kilometer Entfernung konnten die Würdenträger mit ansehen, wie Bauarbeiter den Gipfel in die Luft jagten

Mehr als ein Jahr vergehe im Schnitt zwischen dem Start der Auftragsvergabe und der Unterschrift unter dem fertigen Vertrag, so Tamai. Dabei muss eines der grundlegenden Prinzipien europäischer Großprojekte eingehalten werden - und eines der größten Hindernisse : Jedes der 15 Eso-Mitgliedsländer erhofft sich durch das E-ELT Industrieaufträge, die im gleichen Verhältnis stehen wie die eigene finanzielle Beteiligung an dem Projekt. Vor Tamai liegt ein Puzzle, das mindestens so kompliziert ist wie das Zusammensetzen von 798 Spiegeln.

Entsprechend lange zieht sich die Planung hin. Bereits 2006 war ein Referenzentwurf für das Riesenteleskop fertig. Bis zum ersten Spatenstich vergingen weitere acht Jahre. Dafür war der Start eindrucksvoll: Die Würdenträger, die sich im Juni 2014 in der chilenischen Atacamawüste zum offiziellen Baubeginn versammelt hatten, bekamen Ferngläser in die Hand gedrückt. Aus 20 Kilometern Entfernung konnten sie mit ansehen, wie Bauarbeiter den Gipfel des 3060 Meter hohen Cerro Armazones in die Luft jagten.

5000 Kubikmeter Fels wurden damals weggesprengt. Weitere 220 000 Kubikmeter mussten folgen, bis die 150 Meter breite und 300 Meter lange Plattform entstehen konnte, von der das E-ELT in den Himmel starren soll. Mehr als 320 klare Nächte pro Jahr versprechen die Wetteraufzeichnungen für den Cerro Armazones, dazu weniger als 100 Millimeter Regen und eine Luftfeuchtigkeit von 15 Prozent. Ideale Bedingungen für die Wissenschaft - nicht unbedingt für die Wissenschaftler, die in der trockenen, dünnen Luft ausharren müssen.

Für Roberto Tamai, der vor seinem Job als Projektleiter neun Jahre in der Atacamawüste gearbeitet hat und dessen Tochter in Chile geboren ist, war es dennoch ein angenehmer Tag. "Es war bewegend, es war aufregend, es war der Start für den Bau unserer Autobahn ins Universum", sagt der 52-Jährige. Nur der eigentliche Spatenstich fiel in 20 Kilometern Entfernung etwas enttäuschend aus. "Es hat einfach Puff gemacht." Tamai lacht.

Viel Vorzeigbares ist seitdem nicht passiert. Roberto Tamai geht an seinen Computer und öffnet Google Maps. Vor einem Monat sind die Satellitenbilder der Atacamawüste aktualisiert worden. Sie zeigen nun eine frisch asphaltierte Straße, die sich wie eine Schlange um den platten Cerro Armazones windet - und dort im Nichts endet.

Laser sollen in den Himmel feuern, in 90 Kilometer Höhe Natriumatome zum Leuchten bringen und künstliche Sterne schaffen

Daran wird sich vorerst auch nichts ändern. Frühestens 2017 wird Tamai Bautrupps auf den Weg schicken zu können. "Ende kommenden Jahres werden wir dann hoffentlich die großen Kräne sehen", sagt der Projektleiter. Wichtige Voraussetzung dafür sind Verträge für die fast 3000 Tonnen schwere Teleskopkuppel und das nicht minder massive Gerüst des Hauptspiegels. Ende Mai sollen beide unterschrieben werden - zwei der größten Aufträge in der Geschichte der erdgebundenen Astronomie.

Noch findet die meiste Arbeit im Verborgenen statt. Zum Beispiel an einem Spiegel, den die Teleskop-Konstrukteure schlicht M4 nennen, ohne den das Superteleskop aber äußerst kurzsichtig wäre. M4 ist nicht nur eine der vielen Stationen, die das Licht vom 39 Meter großen Hauptspiegel zu den Messinstrumenten leitet, er ist auch die zentrale Korrekturinstanz des Teleskops: Auf seinem Weg von den Sternen zum Cerro Armazones wird das Licht durch die turbulente Erdatmosphäre hin und her geworfen. M4 soll dies erkennen und korrigieren.

Die sogenannte adaptive Optik konzentriert sich dazu auf einen hellen Stern, der zufällig im Blickfeld des Teleskops liegt. Eigentlich sollte er stillstehen, durch die Turbulenzen tanzt er wild umher. Die Optik erkennt das und verformt gezielt die Oberfläche des 2,4 Meter großen aber nicht einmal zwei Millimeter dicken M4. Etwa 5400 Spulen wie sie auch in Lautsprechern zum Einsatz kommen sind dafür zuständig. Sie können die Spiegeloberfläche 1200 Mal pro Sekunde verändern. Das Resultat ist ein stabiles Bild.

Selbst an Fälle, in denen kein Leitstern im Sucher auftaucht, haben die Konstrukteure gedacht. Roberto Tamai kramt eine Illustration des E-ELT hervor. Die Menschen, die der Grafiker darauf verteilt hat, wirken wie Ameisen. "Unglaublich. Furcht einflößend." Tamai gerät wieder ins Schwärmen. Der Ingenieur deutet auf sechs gelbe Röhren, direkt neben dem Hauptspiegel. Aus ihnen sollen Laser in den Himmel feuern, die in 90 Kilometern Höhe Natriumatome zum Leuchten bringen und dort künstliche Sterne erschaffen. Ihr wackelndes Bild hilft der adaptiven Optik, den Turbulenzen entgegenzuwirken.

"Das ist fundamental, ohne diese Technik könnte unser Teleskop nicht arbeiten", sagt Tamai. Nur so kommt das E-ELT an sein Auflösungsvermögen heran, das - zumindest in der Theorie - einzig von der Größe des Hauptspiegels bestimmt wird: je größer, desto schärfer. Fünfzehnmal so scharfsinnig wie das Hubble-Weltraumteleskop soll Europas Superauge werden.

Dabei hätte alles noch viel schärfer, noch viel größer ausfallen sollen. In ihren ersten Plänen träumten die Eso-Ingenieure von einem 100-Meter-Spiegel, dem Überwältigend Großen Teleskop (Over- whelmingly Large Telescope). Doch schnell zeigte sich, dass nicht nur das Observatorium und die dafür benötigte Technik überwältigend sein würden, sondern auch der Preis. Es entstanden Pläne für ein 42 Meter großes E-ELT. Das hätte allerdings einen sechs Meter großen Sekundärspiegel benötigt, der kopfüber in 65 Metern Höhe über dem Hauptspiegel gebaumelt wäre. Der Eso war das zu riskant - und zu teuer. Das Teleskop schrumpfte weiter, auf nun 39 Meter.

Es ist die absolute Untergrenze für das, was das E-ELT wissenschaftlich erreichen soll, allen voran der Fund einer zweiten Erde. "Erst ein Teleskop mit knapp 40 Metern Durchmesser erlaubt uns, in weit entfernten Sonnensystemen gezielt nach Planeten von der Größe der Erde zu suchen", sagt Michele Cirasuolo, seit vergangenem Jahr Programmwissenschaftler für das E-ELT. Hinzu kommt, dass größere Spiegel nicht nur schärfer sind, sie fangen auch mehr Licht ein; im Fall des neuen Teleskops dreizehn Mal so viel wie die derzeit besten optischen Observatorien. Die Analyse dieser Lichtmengen könnte Aufschluss über die Zusammensetzung ferner Planetenatmosphären geben - bis hin zu Spuren von Sauerstoff. "Mit dem E-ELT können wir erstmals überprüfen, ob ein ferner Planet Leben beherbergen könnte oder nicht", sagt Cirasuolo. Auch andere wissenschaftliche Ziele werden von der Kombination aus Auflösung und Lichtstärke profitieren. Das E-ELT soll die ersten Sterne, Galaxien und Schwarzen Löcher ausmachen, die nach dem Urknall entstanden sind. Es soll ihre Entwicklung im Lauf der Jahrmilliarden verfolgen. Es soll Dinge entdecken, an die heute noch niemand denkt.

Etwa 1,1 Milliarden Euro wird all das kosten - sämtlichen Schrumpfbemühungen zum Trotz. Vor einigen Jahren sah die Finanzierung noch ganz solide aus: Brasilien wollte Eso-Mitglied werden und sich beteiligen. Es fehlte nur noch die Unterschrift der Präsidentin. Doch der Prozess ist ins Stocken geraten. "Sie wissen selbst, was gerade in Brasilien los ist, das müssen wir nicht schönreden", sagt Tamai und rollt mit den Augen. Im Land am Zuckerhut wurde Präsidentin Dilma Rousseff gerade vorläufig ihres Amtes enthoben, wegen Korruptionsverdachts. Das Land steckt in einer Rezession. Die Olympischen Spiele im Sommer dürften die Staatsfinanzen auf Jahre hinaus belasten. Keine guten Aussichten für Sternengucker.

Um trotz der fehlenden Millionen aus Brasilien mit dem Bau des E-ELT beginnen zu können, beschloss der Eso-Rat Ende 2014, das Projekt in zwei Bauabschnitte zu unterteilen. Am Ende der ersten Phase, die weitgehend finanziert ist, würde ein funktionsfähiges, aber abgespecktes Superteleskop stehen. Erst die zweite Phase, für die noch Geld gesucht wird, garantiert ein E-ELT, wie es ursprünglich geplant war.

"Auch ein Auto kann ich zunächst ohne Radio und Navigationssystem kaufen, wenn das Geld dafür noch nicht reicht", sagt Tamai pragmatisch. "In den Urlaub komme ich damit trotzdem. Genauso ist das mit dem E-ELT und seinen wissenschaftlichen Zielen." Astronomen sehen das nicht so entspannt: Unter anderem stehen die fünf innersten Ringe des Hauptspiegels auf der Sparliste - insgesamt 210 Segmente. Das beeinflusst zwar nicht die Auflösung, aber die Lichtmenge. Die Forscher müssen ihr Teleskop länger auf jedes Ziel ausrichten.

Auch zwei Laser, weitere Teile der adaptiven Optik und ein Sektor mit 133 Ersatzsegmenten sind zunächst gestrichen. Die Austauschspiegel werden benötigt, weil im Betrieb durchschnittlich zwei Segmente pro Tag entfernt, gereinigt und neu mit Aluminium beschichtet werden müssen. Gibt es kein Ersatzteillager, dann wird der 39 Meter große Hauptspiegel künftig stets mit Lücken ins All blicken.

Wer auch immer als erster ein Riesenteleskop fertigstellt: Er wird Dinge sehen, die unsere Welt zuvor noch nicht gesehen hat

Noch größere Auswirkungen hat der Geldmangel auf den Zeitplan. Die Finanzen für Phase eins reichen nur, wenn die Inbetriebnahme des E-ELT um zwei Jahre auf 2026 verschoben wird. Der Eso-Rat hat die Hoffnung auf zusätzliches Geld aber noch nicht aufgegeben und verlangt, bei sämtlichen Planungen an einem Startdatum im Jahr 2024 festzuhalten. Für Tamai bedeutet das: Er muss mit seinen Finanzen jonglieren, Optionen in Verträgen festschreiben, Lieferanten im Vagen lassen. Lange wird das nicht mehr gutgehen. "Eigentlich brauchen wir Ende dieses Jahres, spätestens aber Anfang 2017 eine Entscheidung", sagt der Projektleiter.

Für die E-ELT-Macher wäre eine Verzögerung doppelt bitter: 2018 soll das James-Webb-Weltraumteleskop starten, der Nachfolger von Hubble. Astronomen setzen große Hoffnung darauf, Webbs Entdeckungen mit dem deutlich lichtstärkeren E-ELT analysieren zu können. "Das wären ganz wichtige Synergien", sagt Programmwissenschaftler Cirasuolo.

Zudem ist das E-ELT nicht allein. Zwei weitere Großprojekte, das ebenfalls in Chile geplante Giant Magellan Telescope und das Thirty Meter Telescope auf Hawaii, konkurrieren um den Titel des ersten Riesenobservatoriums. Beide haben ihre eigenen, zum Teil massiven Probleme, aber beide könnten vor dem E-ELT fertig werden.

Also eine Frage der Ehre? Roberto Tamai schaut ungläubig. "Natürlich, ganz klar. Wer auch immer der Erste ist, er wird Dinge sehen, die unsere Welt zuvor noch nicht gesehen hat." Der Italiener zögert. Sein Blick fällt auf den Monitor, wo noch immer der kahle Cerro Armazones zu sehen ist. Tamai wird nachdenklich. "All das ist weit, weit weg", sagt er leise. "Jetzt müssen wir erst einmal schauen, dass unser eigenes Projekt in Schwung kommt."

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SZ vom 14.05.2016
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